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Biografisches

Workuta – Vergessene Opfer
"Du darfst diese Verbrechen niemals vergessen!"

Am 1. oder 2. Januar 1951 fielen und stolperten etwa 100 politische Häftlinge aus der DDR aus dem Gefängnis-Waggon auf Schnee und Eis der Gleisanlagen des "Bahnhofs" Workuta. Ohne Bewegung im Waggon hatten Salzfisch und Wasser auf der wochenlangen Fahrt die Beine und bei den Älteren auch Gesicht und Haut anschwellen lassen. Die klirrende Kälte von um 30 Grad minus ließ uns vorsichtiger atmen. Im Moment des Abmarsches unter strengster Bewachung mit Maschinenpistolen bewaffneter, fluchender Soldaten, die ihre Wachhunde gefährlich nahe an uns heranführten, zog an uns ein Begräbnis mit offenem Sarg vorbei. Ich erinnere mich noch heute an den unheimlichen Kontrast zwischen dem rot geschminkten Gesicht des toten Offiziers und den fahlen Gesichtern der Begräbnisgesellschaft.

Unwillkürlich fiel mir unser Zwischenaufenthalt in Brest-Litowsk drei Wochen zuvor ein. Wir warteten in der Peresilka, dem in allen sowjetischen Knotenpunkten vorhandenen Durchgangsgefängnis. Plötzlich der Befehl: "Gesicht zur Wand!". Verstohlen aus den Augenwinkeln konnte ich beobachten, wie etwa 30 Gefangene aus unserem Transport hinter unserem Rücken vorbeigeführt wurden. Ein apokalyptisches Bild: Mit Säcken über dem Oberkörper und dadurch blind und mit tastenden unsicheren Schritten, gebrüllten Befehlen gehorchend, die Hände auf dem Rücken gefesselt; Leidensgenossen, zum Tode verurteilt, auf dem Weg zur Vollstreckung. Die flüchtige Begegnung mit der Ausweglosigkeit vermittelte eine Ahnung vom eigenen Weg in die Vernichtung. Jetzt das Treffen auf den Leichenzug; der andauernde Hunger, die unbarmherzige Kälte und die unzureichende Kleidung. Mich überfiel das Gefühl: "Hier überlebst du nicht!"

In Workutas Quarantänelagern sahen wir, durch Stacheldraht getrennt, unsere Vorgänger kurz vor deren Abreise: Deutsche Landsleute in Wehrmachtsuniform. Nach Überlistung der Postenaufsicht stellte sich heraus, dass es Kriegsgefangene waren, die Workuta überlebt hatten und nun auf dem Weg nach Swerdlowsk waren. Sie wussten, dass ihre alten Lager durch "Politische" aufgefüllt werden sollten. Das waren wohl wir und die, die noch nachkommen sollten.

Nach der Quarantäne kamen wir Mitte Januar 1951 ins Lager Nr. 10, Schacht 29. Ein russlanddeutscher Häftling sprach mich an: "Seid Ihr Deutsche?". Und auf meine Gegenfrage berichtete Oskar Iwanowitsch Raab, er stamme von der Krim. Verhaftet als Kulak und "Staatsfeind" sei er zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden. Er habe noch drei Jahre und werde dann vermutlich in die "freie Ansiedlung" entlassen oder auch verbannt. Ein neuer Schock für uns! Man musste also doch die ganzen 25 Jahre absitzen. Tatsächlich fand ich im Jahre 1993 im Archiv Workuta das vorgesehene Datum für meine Entlassung fixiert: Es war der 14. März 1975. Damals 1951, mit 24 Jahren, erschien mir diese Aussicht unvorstellbar.

Am 1. August 1953 stand ich um 10.25 Uhr mit etlichen hundert Leidensgenossen auf der Lagerstraße, vereint im gemeinsamen Streik. Mehrere Kompanien der MWD-Truppen unter dem Kommando hoher Offiziere aus Moskau rückten an und eröffneten überraschend das Feuer auf die dichtgedrängte Menge politischer Häftlinge verschiedener Nationen. Neben mir verblutete der lettische evangelische Pfarrer Mendriks. Ich stand ziemlich vorn, in der 7. Reihe. Mein österreichischer Arbeitskamerad, der Ingenieur Karl Schmid, wurde ebenso tödlich getroffen wie zwei junge Deutsche. Nachdem die Truppen das Lager gestürmt hatten, lagen 60 Tote und 130 Schwerverletzte auf der Lagerstraße. Ich wurde mit den anderen unverletzt gebliebenen Häftlingen aus dem Lager getrieben und schwor mir: "Du darfst diese Verbrechen niemals vergessen!"

Am 16. Oktober 1992 erfuhr ich aus Moskau, dass ich auch nach russischer Ansicht unschuldig verurteilt wurde, also fünf Jahre in Workuta unschuldig gelitten habe. "Rehabilitation"!

Graffius, Klaus-Peter/Hennig, Horst:
Zwischen Bautzen und Workuta. Totalitäre Gewaltherrschaft und Haftfolgen, Leipzig (Universitätsverlag) 2004, S. 90-91.

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