Workuta.de

Biografisches

"In der Regierungszeit von Nikita Chruschtschow sind die meisten Lager für politische Gefangene aufgelöst worden. Doch so einfach mit einem Federstrich kann man den Archipel Gulag nun mal nicht aus der Welt schaffen. In den Köpfen der Menschen existieren die Lager weiter. Und die in ihnen leiden mußten, werden sie ihr Lebtag nicht vergessen. Wenn sie sich treffen, dann dauert es meist nicht lange, bis irgendeiner anfängt, von damals zu erzählen.

Von der Zeit im Lager.

Klar, die jungen Dachse spötteln, das ist in Rußland nicht anders als bei uns: Warum laßt ihr denn die Vergangenheit nicht endlich mal Vergangenheit sein? Sagt ihr nicht immer, es sei alles so furchtbar und schrecklich gewesen? Na also, dann vergeßt doch diese Zeit so schnell wie möglich, schmeißt sie raus aus euren Gedanken! Aber nein, was macht ihr? Wo immer ihr auch zusammenkommt, werden die alten Geschichten wieder aufgerührt. Das versteh, wer will.

Wir bitten um Vergebung, ihr Leute. Natürlich könnt ihr nicht ahnen, wie sehr diese Zeit im Lager unsere Seelen deformiert hat. Wie sollt ihr begreifen, daß wir zusammenschrecken beim Anblick eines verrotteten Stacheldrahtzauns. Daß der Hochstand eines Jägers uns unweigerlich an einen Wachturm erinnert? Daß wir bei einem sorgsam geharkten Weg an die verbotene Zone rings um das Lager denken, die niemand betreten durfte, es sei denn, er suchte den schnellen Tod. Daß wir uns innerlich dagegen auflehnen, wenn ihr leichthin vom Hunger sprecht, ohne überhaupt ahnen zu können, was Hunger wirklich aus Menschen machen kann.

Und wenn wir beim Klang eines Hammerschlags auf Eisen zusammenfahren, wie sollt ihr es wissen? Selbst dieses harmlose Geräusch bringt uns zurück in die Welt der Lager. Mit Schlägen auf dem Stück Eisenbahnschiene nämlich, das am Tor hing, wurden die Häftlinge geweckt, wurden sie zur Arbeit befohlen, zur Zählung, zum Appell.

Ihr seht also, so leicht ist das nicht mit dem Vergessen. Und überhaupt, wem würde Vergessen denn nutzen? Doch höchstens den Mördern, höchstens all denen, die uns gequält, geschlagen, geschunden haben. Die sich als Herr über Leben und Tod aufspielten.

Ja, das könnte ihnen so passen, den Folterknechten. Daß wir ihre Schandtaten vergessen!"

Schüler, Horst: Workuta. Erinnerung ohne Angst,
München (Herbig) 1993, S. 174f.

workuta.de

Drucken

schließen