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Biografisches

Frauen im Gleisbau (Herbst 1953)

In der Stadt Workuta waren nicht nur tausende Männer inhaftiert, sondern auch ein paar hundert Frauen. Unser Lager "Predschachtnaja" (vor den Schächten) befand sich direkt neben dem Güterbahnhof. Unsere Arbeit bestand im Bau einer neuen Eisenbahnlinie Richtung Norden, zwecks Erschließung neuer Steinkohlenschächte.

Jeweils zwei Brigaden, ungefähr 40 Frauen, wurden von zwei mit Maschinengewehren bewaffneten Militärposten bewacht. Als das Gleis ungefähr 10 Kilometer gediehen war, wurden wir mit einer Lok mit geschlossenen Viehwaggons zur Arbeit und zurück transportiert.

Irgendwann wurden auch Männer aus einem Lager für Kriminelle an der Strecke eingesetzt. Die waren ohne Posten unterwegs.

Dann starb Stalin. Eine der angekündigten Erleichterungen bestand darin, dass wir als Vertrauensbeweis ohne Posten gehen sollten. Wir Deutschen in unserer Brigade fanden das gar nicht gut. Wir hatten Angst vor unseren Nachbarn. Wir sprachen mit der Brigadierin, diese mit der Lagerleitung. Unsere Bitte wurde stattgegeben, und alles blieb beim Alten.

Nicht lange danach passierte Folgendes: Wir zwei Brigaden mit unseren Bewachern arbeiteten etwa zwei Kilometer von den anderen entfernt. Der Bahndamm war ungefähr 3-4 Meter hoch.

Am Fuß stand eine Baubude mit Kanonenofen. Es war später Nachmittag. Plötzlich rief jemand laut. Durch das Salkweidengebüsch der Tundra schlichen etwa 30 Mann auf uns zu. Die Brigadiere schrien "alles in die Baubude", und es gelang uns allen in die Bude zu kommen. Unsere Posten blieben vor der Tür und kletterten schließlich aufs Dach. Die Blatnois (Kriminelle) ließen sich durch Zurufe nicht aufhalten und rückten geschlossen gegen unsere Bude vor. So eine Gelegenheit an Frauen zu kommen, wollten sie sich nicht entgehen lassen. Schließlich legten die Posten die MP an und ballerten den Anrückenden eine kräftige Salve vor die Füße. Damit hatten sie wohl nicht gerechnet, vielleicht sogar von gemeinsamer Sache geträumt. Sie zogen sich langsam zurück. Bald kam unser Zug. Jede Partei kletterte in ihren Viehwaggon und ab ging‘s ins Lager.

So etwas ist glücklicherweise nie wieder passiert.

Erinnerungsbericht von Edith Fadtke
Berlin, September 2019

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