workuta.de

Ernst-Friedrich
(Frieder)
Wirth

geboren 1932
in Meuselwitz

Lebenslauf

13.11.1932 Geboren in Meuselwitz (Kreis Altenburg, Thüringen).
1951 Abitur an der Oberschule in Meuselwitz. Danach Arbeit als Laborant in einem Chemiebetrieb in Böhlen (bei Leipzig), um von dort zum Studium der Geophysik in Leipzig delegiert zu werden.
21.4.1952 Verhaftung wegen privat geäußerter Kritik am politischen System der DDR. Nach kurzem Aufenthalt in Leipzig Transport in das KGB-Gefängnis Potsdam Leistikowstraße.
16.7.1952 Verurteilung durch ein Sowjetisches Militärtribunal in Potsdam zum Tode wegen angeblicher "antisowjetischer Agitation und Propaganda", "Zugehörigkeit zu einer feindlichen Gruppe" und "Spionage" nach den Artikeln 58-2, 58-6, 58-8 und 58-10 des StGB der RSFSR. Drei weitere Angeklagte (Heinz Baumbach, Heinz Eisfeld, Helmut Paichert) werden zum Tode verurteilt. Die anderen vermeintlichen "Gruppenmitglieder" (Hans Günter Aurich, Ulrich Kilger und Helmut Tisch werden jeweils zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt.
August 1952 Transport nach Moskau in die "Butyrka" (gemeinsam mit den anderen zum Tode Verurteilten).
Oktober 1952 Seinem Gnadengesuch, das er noch im Potsdamer KGB-Gefängnis in der Leistikowstraße verfasst hatte, wird stattgegeben: "Begnadigung" zu 20 Jahren Haft. Die anderen drei zum Tode Verurteilten werden in Moskau hingerichtet.
Dezember 1952 Abtransport über Rusajewka nach Workuta.
1953 - 1954 Lagerhaft in Workuta Schacht 8, Lager 9, Zwangsarbeit in einer Baubrigade.
Ende 1954 Beginn des Rücktransports. Für ein bis zwei Monate nach Inta, dann längerer Aufenthalt im Lager Suchobeswodnoje bei Gorki.
12.1.1956 Entlassung in die Bundesrepublik.
Ab 1956 Studium der Chemie. Anschließend Arbeit in der chemischen Industrie (Kunststoffentwicklung).
1996 Rehabilitierung durch die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation.
1996 Renteneintritt
  Ernst-Friedrich Wirth ist verheiratet, hat zwei Kinder, zwei Enkel und lebt in Köln.

Biografisches

Inhaftierung, Kellerzelle 5

"Ich habe Stunden damit zugebracht, im Kreis rumzulaufen, auf den zwei Quadratmetern, die da zur Verfügung standen. Sämtliche alten Lieder, die mir in den Kopf kamen, hab ich vor mich hingesummt. Man durfte ja auch nicht laut sein. Man durfte nichts sagen, man durfte keine Laute äußern und ich weiß bis heute nicht, wie ich die Zeit rumgebracht habe. Von morgens sechs Uhr bis abends zehn Uhr muss man wach sein, man darf sich nicht legen, man darf nicht die Augen schließen und man hat nichts, womit man sich beschäftigen kann. Also keine Zeitung, kein Buch, nichts, nichts, nichts. Und das sind 16 Stunden, Tag für Tag, in denen man bloß an seinen Magen denkt, der ewig knurrt und sonst keine Beschäftigung hat. Ein Mensch, der immer agil war, für den ist das die Hölle. Ich habe gesagt, ich muss abschalten, ich muss sofort abschalten und alles außen vor lassen, jeden Gedanken an ein Ende, anders hält man das nicht aus. Die ersten Tage, als ich reinkam in das Gefängnis, meinte ich: 'Das Brot, das kann man doch nicht essen.' Und mein Mitgefangener der sagte: 'Oh, da gib es mir doch!' Der war also heilfroh, das Brot mit den dicken Schimmelstellen zu bekommen. Aber nachher, wenn man Hunger hat, dann isst man ja alles. Irgendwann, weiß ich, schmiss man dann mal einen Salzhering in die Zelle rein. Der wurde gehäutet, das Salz wurde runtergeputzt, dann wurde der mit Haut und Haaren, mit Gräten und Köpfen und allem, was er war, gegessen. Man bekam morgens kurz nach dem Aufstehen ein Stück Brot, das mögen so 400 Gramm gewesen sein, und kurz hinterher kam eine Schüssel Suppe. Meistens Graupensuppe, relativ dünne Graupensuppe. Und dann gab es am Nachmittag, so gegen drei eine Schüssel relativ dünne Kohlsuppe, und irgendwann noch mal gab es einen Becher Tee. Also wir haben Kohldampf geschoben von Anfang bis zum Ende."

Verurteilung

"Das Gerichtsverfahren, das war ein Theater. Wir kamen in einen großen Raum. Dann war auf der einen Seite eine schmale Holzbank, wo wir sieben saßen. Davor war ein großer Schreibtisch mit drei Richtern. Auf der einen Seite saß ein Sekretär, auf der anderen Seite eine Dolmetscherin. Hinter diesen drei Richtern, wovon der mittlere auf einem erhöhten Stuhl saß, standen zehn Soldaten mit Maschinenpistole. Und jedes Mal, wenn wir bloß den Kopf nach links und rechts drehten, fingen die an da hinten an ihren Pistolen rumzufingern. Und das Gerichtsverfahren verlief so, dass der Sekretär oder der Richter aus den Protokollen vorlas und wir das abnicken sollten. Wenn wir sagten 'Ja, so war das aber nicht' hieß es dann: 'Das haben sie aber so unterschrieben.' In einem normalen Rechtsstaat hätten die Anschuldigungen nie zu einem Gerichtsverfahren geführt. Da kam, sie haben faschistische Briefmarken gehabt und solche Lächerlichkeiten, wer einen Stadtplan hat, der will spionieren, oder sonst was. Am Ende wurden wir rausgeführt und kamen nach ein paar Stunden wieder, und dann hieß es bloß '25 Jahre Strafarbeitslager, Todesurteil, Todesurteil, Todesurteil, Todesurteil, 25, 25'. Und das war es dann."

Reich, Ines/Schultz, Maria (Hg.): Sprechende Wände – Häftlingsinschriften im Gefängnis Leistikowstraße Potsdam, Berlin (Metropol Verlag) 2015, S. 136-137, 142.

workuta.de