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Günter
Albrecht

geboren 1928
in Stralsund

verstorben 2013
in Krefeld

Lebenslauf

7.5.1928 Geboren in Stralsund.
1944-1945 Nach vierwöchiger Ausbildung in der Seemannsschule Ziegenort bei Stettin Kriegseinsatz auf einem Schiff in der Nord- und Ostsee. Nach kurzzeitiger britischer Kriegsgefangenschaft in Schleswig-Holstein im Juni 1945 Rückkehr nach Stralsund. Mitarbeit in der väterlichen Gärtnerei.
1946 Ausbildung zum Gärtner und Besuch der Gartenbaufachschule in Stralsund. Eintritt in die LDP.
1948 Hauptamtlicher Kreisgeschäftsführer der LDP in Ahlbeck auf Usedom.
5.3.1949 Festnahme durch die Kriminalpolizei in Ahlbeck; Transport über Greifswald und Stralsund nach Schwerin. Übergabe an den NKWD.
6.3.1949 Beginn der Untersuchungshaft im Gefängnis am Demmlerplatz mit monatelangen nächtlichen Verhören unter massivem physischem und psychischem Druck und schweren Misshandlungen.
21.1.1950 Gerichtsverfahren gegen insgesamt 32 Angeklagte, die zum Großteil nicht miteinander bekannt sind. Kein Schuldbekenntnis. Verurteilung aufgrund der Artikel 58-2, 4, 6, 10 und 11 des StGB der RSFSR, zu insgesamt 128 Jahren Haft, die in 25 Jahre Zwangsarbeit umgewandelt werden.
Oktober 1950 Transport in die UdSSR mit Zwischenaufenthalten in den Haftanstalten in Bautzen ("Gelbes Elend"), Halle/Saale ("Roter Ochse"), Berlin-Lichtenberg und Berlin-Hohenschönhausen, Orscha und Moskau (Lubjanka und Butyrka). Ankunft in Workuta.
1950-1955 Haft in Workuta. Zwangsarbeit unter Tage in den Schächten 40, 30, 31, 32.
Februar 1955 Abtransport aus Workuta über Suchobeswodnoje, Moskau, Brest-Litowsk und Frankfurt/Oder nach Fürstenwalde.
15.10.1955 Haftentlassung in Fürstenwalde, von dort Heimreise nach Stralsund.
November 1955 Flucht in die Bundesrepublik nach Rheydt (Mönchengladbach).
Seit 1956 Politische Betätigung in der FDP.
28.2.1956 Heirat. Seine Frau hat er noch in Stralsund kennengelernt. Sie flüchtet mit ihm in den Westen. Aus der Ehe gehen zwei Töchter hervor.
3.8.1958 Flucht seiner Eltern in die Bundesrepublik wegen der in der DDR anlaufenden Enteignungs- und Kollektivierungsmaßnahmen.
1961 Eröffnung eines Gärtnereibetriebs in Krefeld gemeinsam mit seinem Vater.
1975 Wahl in den Krefelder Stadtrat. Fraktionsvorsitzender der FDP. Verleihung der Theodor-Heuß-Medaille.
1982 Verleihung des Bundesverdienstkreuzes durch Bundespräsident Karl Carstens.
1984 Kreisvorsitzender der FDP Krefeld. Ausscheiden aus dem Stadtrat.
1996 Rehabilitierung durch die Oberste Staatsanwaltschaft der Russischen Föderation.
28.11.2013 Verstorben in Krefeld.

Biografisches

Schwerin, 1950 - Das Gleichnis

Nachdem ich einem Dolmetscher gesagt hatte, dass ich unschuldig sei und weiter nichts getan hätte, als meine Meinung zu sagen, erklärte er mir Folgendes:
"Kennst du Honig?"
"Ja."
"Stell dir einen großen Kessel mit Honig vor – 100 kg."
"Ja."
Kennst du Scheiße?"
"Ja."
"Nimm einen Teelöffel voll Scheiße, schmeiß diese in den Honig und verrühre sie gut. Was ist dann?"
"Dann ist der Honig verdorben."
"Ja, genau das. Dieser Löffel Scheiße, das bist du!"
Er wollte mir erklären, dass ein Mann, der eine andere Meinung vertritt, ein ganzes Volk verderben bzw. aufwiegeln kann. Also muss er verschwinden. Und genauso sind die Geheimdienste vorgegangen.

Workuta, 40. Schacht, 1951 - Der Abgrund

Ich kam in eine Brigade, die neben anderen die schwerste Arbeit hatte. Unsere Aufgabe bestand darin, die Schächte abzuteufen. Dies beinhaltete, den Stollen von der Oberfläche bis auf die Endtiefe von ca. 650 m herzustellen. Im 40. Schacht hatte dieser Stollen einen Durchmesser von 6 m.
Wir mussten bohren, sprengen, laden, die Wände betonieren, nach Angabe der Markscheider die Eisenträger einbauen, danach die gesamte Installation zur Führung der Fahrstühle bzw. „skips“ sowie Notausstiege und –abstiege errichten.
Wenn die Tiefe erreicht war, mussten wir die Armierung einbauen. Hierzu wurden quer mehrere Eisenträger eingezogen. Für die Halterung mussten wir mit Presslufthammern Löcher von etwa 50 x 40 cm Fläche und 50 cm Tiefe in den Beton bzw. in das Gestein schlagen. Gearbeitet wurde von oben nach unten von einer Holzbühne aus, die an Seilen hing.
Die Luftzufuhr lieferte ein Kompressor, der über Tage stand. Im Winter froren daher die Presslufthämmer laufend ein. Aber jeder hatte zwei Hämmer, die man in regelmäßigen Abständen auswechseln konnte. Wenn man einen eingefrorenen Hammer ablegte, taute er durch das Wasser in kurzer Zeit wieder auf.
Wenn die Löcher gestemmt waren, wurden die Eisenträger herabgelassen. Alle fünf Meter wurden jeweils fünf schwere Doppel-T-Träger eingelassen, von denen der längste 10 m war. Die Längsträger, an denen die Gleitschienen zur Führung der Aufzüge montiert wurden, wurden später eingebaut. Mitte 1951 war der Schacht dann bis auf 600 m fertiggestellt. Von hier aus sollten die Hauptstrecken zu den Abbaugebieten abzweigen. Bevor der Vortrieb dieser Strecken in Angriff genommen wurde, wurde der Stollen noch einmal um 60 m vertieft. Hier wurden später Pumpen installiert, die enorme Wassermengen an die Oberfläche befördern mussten.
Das Wasser war das größte Problem. Trotz Beton drang das Grundwasser durch und ergoss sich ab 100 m Tiefe wie ein Sturzbach über uns. Man arbeitete tatsächlich unter Wasser. Wir trugen zwar Gummikleidung, aber diese wies zahlreiche Löcher auf. Auch neue Gummikleidung hielt nicht lange; sie wurde durch das spitze Gestein zu sehr strapaziert. So waren wir ständig durchnässt. Nahmen wir die Hände nach unten, lief das Wasser durch die Handschuhe, beim Schaufeln und Anheben der Arme lief es wieder in die Ärmel bis in die Achseln und dann den Körper hinunter. Völlig durchnässt arbeitete man eben die achtstündige Schicht ab.
Dann fuhren wir aus und liefen – denn wer langsam ging oder stehenblieb, war sofort zum Eisklumpen gefroren, das Thermometer zeigte meistens unter 40 Grad und weniger – zum Umkleidegebäude. Dort hängten wir unsere Kleidung in den etwa 70-80 Grad heißen Trockenraum. Dem Trockenraum waren ein Umkleideraum, ein Waschraum und eine Sauna angeschlossen. Die Sauna war primitiv, aber wirksam: Es war praktisch ein aus Stein gebauter Ofen, nur dass über der Feuerung dicht an dicht schwere Eisenbahnschienenstücke gelegt waren, auf denen dann wiederum ca. 1 m hoch Gestein gestapelt wurde. Der Ofen wurde von außen geheizt. Im eigentlichen Saunaraum war eine Öffnung, in welche wir dann Wasser schöpfen konnten, so dass Dampf entstand.

Workuta, 30. Schacht, 1952 - Die Blinddarmoperation

Ich lag inzwischen schmerzverzerrt gekrümmt auf dem Fußboden – da kam zufällig wieder jemand vorbei. Er erkannte wohl, was mit mir los war, und holte umgehend einen Arzt. Dieser untersuchte mich kurz und sagte irgendetwas, was ich nicht verstand. Man brachte mich in ein Labor, das von einem 65-70 Jahre alten Professor aus Lettland, einem sehr freundlichen und hilfsbereiten Mann, der gut Deutsch sprach, geleitet wurde. Er war schon über zehn Jahre im Lager. Er nahm eine Blutuntersuchung vor und erklärte mir dann, dass ich wohl eine Blinddarmentzündung hätte. Er benachrichtigte den Chirurgen, ich musste sofort operiert werden. Die Operationsvorbereitung fiel zum größten Teil meinem guten Freund Jochen Klett zu. Er sagte mir, dass niemand auf diese Bauchoperation vorbereit sei und die entsprechenden Geräte nicht vorhanden seien. Patienten mit meinem Leiden wurden normalerweise in die Stadt Workuta ins Krankenhaus überführt. Der "OP" wurde in Windeseile geheizt. Als ich hineinkam, herrschten noch Minusgrade. Man musste mich mit örtlicher Betäubung operieren, da kein Narkosemittel vorhanden war. Also ließ man sich vom Zahnarzt Novokain bringen und betäubte damit die Bauchoberfläche. Arme, Beine und Oberkörper waren festgeschnallt. Über meinen Oberkörper hatte man ein Laken gehängt, damit ich nichts sehen konnte. Dann begann die Operation. Ich hörte das Schneiden, spürte jedoch nichts. Nach einer Weile verspürte ich sehr starke Schmerzen. Ich kann es heute nicht mehr beschreiben, was alles vor sich ging. Ich weiß nur noch, dass das Ganze drei Stunden und fünfzig Minuten dauerte und ich immer abwechselnd jammerte und fluchte. Der Arzt war Russe, ca. 30 Jahre alt und seit zehn Jahren in Gefangenschaft. Ich blieb etwa acht Wochen im Krankensaal, weil ich mir in dem eiskalten Operationsaal eine Lungenentzündung zugezogen hatte und weil die Wunde nicht heilte. Die inneren Muskeln bzw. das Fleisch wurde mit Seide vernäht, die nicht steril war – einige Russen hatten den Alkohol, in dem sie desinfiziert werden sollte, getrunken und gegen einfaches Wasser ausgetauscht. Die Wunde war völlig vereitert.

Quelle: Czernetzky, Günter/Donga-Sylvester, Eva/Toma, Hildegard. Ihr verreckt hier bei ehrlicher Arbeit! Deutsche im Gulag 1936–1956, Anthologie des Erinnerns, Graz/Stuttgart (L. Stocker) 2000, S. 82, S. 150-151,
S. 206-207.

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