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Jakob
Wunder

geboren 1919
in Saratow

verstorben 1966
in Workuta

Lebenslauf

28.8.1919 Geboren in Moor (Kljutschi), einem kleinen Dorf in der Nähe von Saratow an der Wolga.
1927 - 1934 Siebenjährige Schulausbildung mit Abschluss.
1934 - 1939 Studium an der Kunstschule in Moskau.
1939 - 1941 Arbeit als Maler am Theater der Stadt Mikolajiw (in der heutigen Ukraine).
1941 - 1942 Im Rahmen der von Stalin befohlenen Zwangsumsiedlung der Wolgadeutschen Verbannung nach Sabundy (Kasachstan), Arbeiten an der Stadtgestaltung (Malen von Propagandabildern).
18.11.1942 Festnahme im Dorf Sabundy (Kasachstan) durch das NKWD (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten) auf Grund einer anonymen Anzeige: Auf dem Porträt von Stalin sei in den Falten des Kittels ein Hakenkreuz zu erkennen.
9.10.1943 Verurteilung nach dem Paragraph 58-10 (antisowjetische Propaganda) und 58-11 (Gruppenbildung zur Vorbereitung eines konterrevolutionären Verbrechens) des StGB der RSFSR zu 10 Jahren Zwangsarbeit in der Verbannung.
29.1.1944 Nach Haftaufenthalt in Swerdlowsk Ankunft in Workuta.
1944 - 1945 Zwangsarbeit in einer Ziegelsteinfabrik.
1945 - 1952 Zwangsarbeit im städtischen Theater als Maler und Bühnengestalter mehrerer Oper- und Theaterstücke, u.a. die Oper "Faust" nach C. Gounod. Die Mitarbeiter des Theaters waren zu 90 Prozent politische Gefangene und standen Tag und Nacht unter der strengen Kontrolle eines bewaffneten Wachdienstes.
1948 Heimliche Beziehung mit Maria Grigorjewna.
3.4.1949 Geburt der Tochter Tatjana in Sabundy (Kasachstan), da Maria Grigorjewna in Workuta wegen der unerlaubten Beziehung sonst eine mehrjährige Haftstrafe gedroht hätte.
1951 Umzug von Mutter und Tochter zurück nach Workuta.
18.11.1952 Nach Verbüßung seiner Haft im Straflager Workuta Entlassung aus der Zwangsarbeit, jedoch mit der Auflage zur Zwangsansiedlung in der "freien" Stadt Workuta. Schwierigkeiten bei der Suche nach Arbeit.
1953 - 1955 Erneut Einstellung als Maler und Bühnengestalter beim städtischen Theater. Mitarbeit bei mehreren Theaterstücken, u.a. "Vassa Zscheleznova" nach M. Gorkij und "Die Meisterin des Breikochens" nach N. Tschernyschevskij.
30.6.1955 Anstellung am Geophysischen Institut in Workuta als Maler und Fotograf.
1955 Gründung des nicht staatlich anerkannten Vereins für Künstler, die aus den Straflagern entlassen wurden. Erste Gruppenausstellung im Foyer des städtischen Theaters in Workuta.
1955 - 1965 Teilnahme an mehreren Ausstellungen der Künstler in der Republik Komi in Syktywkar.
1958 - 1962 Mitarbeit an der Gründung des Völkerkundemuseums, des Puppentheaters und einer Abendkunstschule für Kinder in Workuta.
1959 Organisation der zweiten Ausstellung des freien Künstlervereins in leerstehenden Räumen des Völkerkundemuseums in Workuta.
1962 Nach langjährigen Bemühungen offizielle Anerkennung des Künstlerverbandes durch die Stadt Workuta.
8.9.1966 Gilt zunächst als vermisst. Auf der Rückreise von einer Expedition kippt das Boot auf dem Fluss Kozschim (Republik Komi) um. Erst neun Monate später werden bis auf die Hände nicht erkennbare Körperteile des Malers am Flussufer gefunden. Ein kleines Tattoo in Form eines Malbrettes zwischen dem Daumen und Zeigerfinger der linken Hand deutet darauf hin, dass es sich um Jakob Wunder handelt.
Juni 1967 Beerdigung von Jakob Wunder in Workuta.

Biografisches

Erinnerungen an meinen Vater

"Ich erinnere mich an meinen Vater als an einen sehr gutherzigen Menschen, der meine Mutter und mich liebte. Er verlor nie den Mut, hatte immer allen seiner Freunden geholfen, die aus der Haft gekommen sind. Trotz dass wir sehr arm lebten, in einem kleinen 10 m² großen Zimmer in einer Baracke, die als Haus der Schauspieler ausgeschildert war, fanden wir immer einen Platz für Freunde, Platz für eine Übernachtung, ein Stück Brot, Worte zum Trösten und Glauben an eine bessere Zukunft. Meine Mutter arbeitete viel, ich und mein Vater blieben abends zu zweit, tranken Tee. Vater erzählte mir viele lustige Geschichten, manche von ihnen dachte er sich selbst aus. Seine Freunde mochten ihn sehr, respektierten ihn. Vater mochte Kinder, anscheinend deswegen rief er die Initiative zur Erbauung des Puppentheaters in Workuta ins Leben. Als Kinder waren wir sehr glücklich darüber - es gab damals kein Kino, kein Fernsehen. Und auf einmal eröffnete sich uns eine ganz neue Welt - Theater für Kinder. Vater war niemals untätig, hatte keine Ruhe, immer wieder zeichnete er etwas auf ein Stück Papier. Später brachte er die Verwaltung in Workuta dazu, eine Kunstschule für Kinder und Jugendliche zu errichten und er arbeitete viel für die Gründung eines Völkerkundemuseums. Er liebte die weite, endlose Landschaft des Nordens. Ich vermute, dass er deswegen vom Theater zur Geologie wechselte. Als ich älter wurde, sah ich ihn immer seltener. Von Mai bis Oktober nahm er zusammen mit Geologen an Expeditionen teil: Ural, Insel Wajgatsch, Kara Meer (Karskoe more), Jamal Insel. In der Geologie war er als Techniker tätig, neben seinen täglichen Aufgaben malte und fotografierte er die Natur des Nordens. Seine Kollegen schätzen ihn sehr.

Im Jahr 1966, als ich 16 Jahre alt war, kam das große Unglück während einer Expedition. Das Boot, mit dem mein Vater und zwei weitere Geologen unterwegs waren, kippte um - kaltes Wasser, schwere Ausrüstung. Nur einer der drei Geologen konnte sich retten. Mein Vater und der Geologe Potapov sind ertrunken. Für mich und meine Mutter war dies ein unersetzlicher Verlust.

Die meisten Werke des Vaters (Malerei, Fotografie) wurden von meiner Mutter an das Völkerkundemuseum in Workuta sowie an die ‚Polar Geologie‘ (Workuta Komplex Erkundungsgeologie Expedition) überreicht."
Tatjana Wunder (Tochter)

Im Jahr 1955 bildete sich um Jakob Wunder eine Gruppe aus Künstlern, welche die Arbeitslager überleben konnten. Eine kurze Zeit später vereinigten sie sich zu einem noch nicht offiziellen Künstlerverein. Ihr Recht, nach Hause in die Heimat zurückzukehren, wurde ihnen verwehrt. Stattdessen verurteilte man sie zu einer Zwangsansiedlung im Polarkreis.

Zum Künstlerverein der Stadt Workuta

"In den schweren und kalten Zeiten des Exils brauchten wir alle die seelische Wärme des Nächsten. Was dies angeht, war Jakob Wunder für uns alle das leuchtende Vorbild eines Wohltäters, eines ehrlichen, energievollen und unternehmungslustigen Organisators. Der Kern des Künstlervereins bestand aus Jakob Wunder, Konstantin Gusev, Visvaldis Kraulis, Jurij Schepletto, Voleslaw Stenning und Arseni Schulju. Von Zeit zu Zeit wurde unser Verein mit vielen weiteren Künstlern ergänzt, die mit uns an Projekten arbeiteten. Oft wurden neue Mitglieder von dem allgegenwärtigen und überall anwesenden Jakob Wunder gefunden. Oder sie meldeten sich auf eigene Initiative, da es sich herumsprach, es gebe eine gewisse Boheme in der Stadt. Engen Kontakt hatten wir außerdem mit einer Architektengruppe, welche einige Bauprojekte in der Stadt leitete (heute nennen sie sich wissenschaftliches Forschungsinstitut Pechornii-Projekt). Wir versammelten uns im Studio, machten Ausflüge in die Natur, malten und trafen gemeinsam wichtige Entscheidungen in Bezug auf die künstlerische Gestaltung der Stadt. Jakob Wunder strebte ununterbrochen nach der offiziellen staatlichen Anerkennung unseres Künstlervereins, was 1962 endlich geschah. Um damit verbundene Fragen zu klären, reiste er oft auf eigene Kosten nach Syktywkar (Hauptstadt der Republik Komi) und Moskau. Der Grund dafür war sicherlich, die materielle Unterstützung des Vereins von Seiten des Staates und die damit verbundene Sicherung des Lebensunterhalts der Vereinsmitglieder und ihrer Familien zu erlangen."
Konstantin Ivanov (Maler)

Februar 1956: Die Suche nach weiteren Künstlern

"In dieser Zeit durchquerte Jakob Wunder die Arbeitslager um Workuta herum und versuchte, die noch nicht befreiten Künstler aufzufinden. Trunken von Freiheit und dem Glauben an die Zukunft, mit der Hoffnung, die verpassten Jahre und Möglichkeiten nachzuholen, lernte er immer wieder Menschen kennen und half ihnen, wo er nur konnte, bis sie befreit wurden. Nach ihrer Befreiung gab er ihnen vorübergehend eine Unterkunft, teilte den Tisch in seinem kleinen Zimmer in der Wohnbaracke mit ihnen, obwohl es für seine Familie, die aus seiner Lebensgefährtin Maria und Tochter Tata bestand, schon kaum Platz gab."
Konstantin Ivanov (Maler)

Freundschaft für immer

"Im Jahr 1959, als ich zum Praktikum von der Kunstakademie aus, um meine Diplomarbeit anzufertigen, nach Workuta angereist war, sah er mich zufällig, als ich Skizzen für das zukünftige Bild machte, und machte vorsichtige Bemerkungen. Dann folgte die Einladung, zu ihm nach Hause mitzukommen. Mein ganzes Praktikum lang begleitete er mich im wahren Sinne des Wortes. Seinem Wesen nach war er so, dass jeder Mensch, welcher mit Kunst verbunden war, seine Hilfe und Fürsorge erfahren durfte. Obwohl es sein offizieller Status und seine Verpflichtungen nicht erforderten, nahm er dies auf sich. Sein Wesen war einfach so und basta. So hat sich unsere Bekanntschaft in eine langjährige und mehr als enge Freundschaft entwickelt."
Rem Ermolin (Maler)

Mit Blick auf das Uralgebirge

"Ja, er war ein wahrer Fanatiker! Stundenlang konnte er an irgendeinem Detail eines Bildes arbeiten. Dabei genoss er den eigentlichen Prozess des Schaffens. Er nörgelte absolut nicht an den Arbeitsbedingungen herum. Ich kann mich ganz gut erinnern, zum Beispiel daran, als er mich auf das Dach des Hauses, in dem er wohnte, mitnahm, von wo aus sich ein wunderbarer Blick auf das Uralgebirge entfaltete. Stellen Sie sich vor, ich wurde von unserer Unterhaltung so mitgerissen, dass ich es gar nicht bemerkte, wie er auf dem Dach, welches sich vor den Füßen nach unten entglitt, mit Malen anfing."
Rem Ermolin (Maler)

Die wertvollen Sommertage

"Jakob schätzte jeden Sommertag in der Tundra. Während einer der Expeditionen ist ihm seine Lieblingskamera aus Versehen heruntergefallen und wurde dabei stark beschädigt. Er hatte kein weiteres Aufnahmegerät mit. In der gleichen Nacht verließ er das Expeditionslager und ging quer durch die Tundra Richtung Zentrale. Dreißig Kilometer auf dem weichen vermoosten Boden der Tundra legte er in einer Nacht zurück! Von da aus erreichte er mit einem Hubschrauber die Stadt, und ohne Rast zu machen, eilte er zum Flugzeug, um nach Moskau zu fliegen. In Arbeitskleidung und unausgeruht durchsuchte er die Gebrauchtwarenläden der Hauptstadt, bis er eine passende Kamera fand und zahlte übertrieben viel - die Zeit ließ eben nicht auf sich warten. Innerhalb von zwei Tagen kehrte er wieder zurück und folgte der Expedition weiter."
Albert Bernstein (Schriftsteller)

Die neue Schaffensperiode

"Das Völkerkundemuseum der Stadt Workuta bewahrt die meisten Werke des Künstlers Jakob Wunder auf, - malerische Arbeiten, Etüden, Grafik, Dokumente, Fotofilme. Er ist zur leitenden Figur des Kulturlebens der Stadt Workuta von der zweiten Hälfte der 1950er bis zur ersten Hälfte der 1960er Jahre geworden. Das Jahr 1955 war der Anfang einer neuen Periode in der schöpferischen Tätigkeit von Jakob Wunder. Es gibt kaum Erklärungen dazu, warum er die Entscheidung traf, das Theaterleben zu verlassen und sein Leben der geophysischen Expedition zu widmen. Vermutlich wählt der Mensch, welcher grenzenlose Freiheit liebt und zur seiner Zeit viel zu lange auf diese warten musste, immer wieder Freiheit. Die Expeditionen gaben ihm die Möglichkeit, „frei“ zu sein, ohne administrative und alltägliche Bedingungsstrukturen des Lebens in einer Stadt mit den sozialen Vorbestimmungen der damaligen Zeit. Zu Fuß, mit Pferden, per Hubschrauber oder Boot, ausgestattet mit Staffelei und Fotokamera bereiste er in der Kürze der ihm zugemessen Zeit, die weiten Ecken des Nordens und des Polarkreises."
Galina Truchina (Kuratorin des Völkerkundemuseums Workuta)

Ausstellung von 1992

"Die Ausstellung weckte in mir traurige Erinnerungen an das Jahr 1966, als der Tod Jakob Wunder einholte. Ich arbeitete damals in der geologischen Forschung am Polar-Ural. Bis dahin kannte ich ihn bloß vom Hörensagen. Den Maler mit eigenen Augen zu sehen, war unerwartet für mich, als unsere Expedition von den Bergen in das Tal des Flusses Kozschim herunterstieg. Hier, zum ersten Mal in meinem Leben, konnte ich den leidenschaftlichen Künstler bei seinem Schaffensprozess beobachten. Vom Wetter wurden wir ganz und gar nicht verwöhnt. Regen und Schnee vermischten sich miteinander. Jedoch konnte auch dies den Künstler nicht von seiner Arbeit abhalten, er fotografierte rastlos die Geologie der Polarregion und seine endlose Landschaft. In meinem Gedächtnis kommt diese unaufhaltsame Leidenschaft zum Vorschein, genauer gesagt, der Fanatismus, mit dem er an seine Arbeit heranging."
V. Zolotova (Geologin)

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