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Joseph
Scholmer

geboren 1913
in Oberkasbach

verstorben 1995
in Bonn

Lebenslauf

19.8.1913 Geboren in Oberkasbach (Kreis Neuwied).
1932 Studium der Medizin in Bonn und Basel. Kontakte zu linken Studentengruppen.
Ab Januar 1933 Verbindung zu illegalen Widerstandsgruppen.
1940 - 1944 Tätig am Institut für Röntgenologie und Radiologie der Universität Leipzig.
1944 Verhaftung durch die Gestapo.
Nach 1945 Direktor des Krankenhauses in Döbeln.
Oktober 1945 Auf Anordnung tätig als Arzt in der Administration der "Zentral-Verwaltung für das Gesundheitswesen der Sowjetischen Besatzungszone".
1948 Austritt aus der SED aus Protest gegen die Stalinisierung der SBZ.
April 1949 Verhaftung durch sowjetische Sicherheitsorgane und Verurteilung durch ein Moskauer Fernurteil nach Artikel 58-6 ("Spionage") und 58-8 ("Sabotage") des StGB der RSFSR zu 25 Jahren Lagerhaft.
Juli 1950 Abtransport nach Workuta.
Januar 1954 Rückkehr nach Deutschland.
April 1954 Heirat in Berlin mit Ursula Rumin.
1.4.1995 Verstorben in Bonn.

Biografisches

"In den dreieinhalb Jahren zwischen Juni 1950 und Dezember 1953, die ich als Gast in der Sowjetunion verbrachte, habe ich die unwahrscheinlichsten Dinge erlebt. Dass ich aber im Vaterland der Werktätigen einen Streik erleben würde, einen richtiggehenden, ausgewachsenen Streik, durchgeführt von Tausenden von Menschen, einen Streik mit Streikparolen, Streikkomitees, Flugblättern und natürlich auch Streikbrechern, kurz: einen Streik mit allem Drum und Dran, das hätte ich mir in meiner kühnsten Phantasie nicht träumen lassen.

Diesen Streik sah ich nicht in Moskau und nicht in Leningrad, nicht bei der Stahlindustrie des Donezk und Don, nicht in den Kraftwerken von Dnjepropetrowsk, sondern bei den Ärmsten der Armen, bei den erbärmlichsten, vollkommen entrechteten Arbeitssklaven der sogenannten Korrektionslager in der Arktis.

Ich fuhr unfreiwillig in die Sowjetunion. Mein Reisebüro hieß nicht Intourist, sondern MGB – Ministerstwo Gosudarstwenoj Besopasnosti, Ministerium für Staatssicherheit, für diejenigen, denen der Begriff Intourist geläufiger ist. Es ist konkurrenzlos billig; ich bin viele tausend Kilometer gefahren, ohne eine Kopeke zu bezahlen. Wer die Sowjetunion kennenlernen will, wie sie wirklich ist, sollte eine Reise nur durch das MGB und nicht durch die Intourist arrangieren lassen, die ihre Gäste immer nur dieselbe langweilige Route Leningrad-Moskau-Stalingrad und nach der Krim führt.

Als ich in Workuta, am 68. Breitengrad, eintraf, hatte ich noch einige mitteleuropäische Illusionen. Ich bin Arzt, dachte ich, da werden sie mich wohl als Arzt arbeiten lassen.

Ich sollte mich getäuscht haben. Bei der ersten Kommissionierung kniff mich der weibliche Chef der Sanitätsabteilung, die Arzt-Majorin Trofimowitsch, in die Muskulatur meiner Hinterbacken und gab mir angesichts des für sie offenbar leidlich befriedigenden Befundes die mittlere Arbeitskategorie. Ich hatte mir die Begrüßung durch eine sowjetische Kollegin anders vorgestellt. Einen Tag später stand ich an der Uliza Leningradskaja in Workuta, mit einer Hacke in der Hand und der Norm von 1 ½ Kubikmeter Lehm pro Schicht."

Scholmer, Joseph: Der Streik in Workuta, in: Der Monat. Internationale Zeitschrift für Politik, 6. Jahrgang, Heft 66, 1954, S. 563f.

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