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Biografisches

Die Musikkapelle von Workuta

"Kurz nach meiner Ankunft in Workuta im Sommer 1952 sprach mich ein Mann an. Er war Este und als Brigadier zuständig für alle möglichen Reparaturen, also für Instandhaltungen vieler Dinge in den Baracken und im Lager. Gleichzeitig war er Kapellmeister im Lager 10. Er stellte sich vor: 'Ich habe gehört, du spielst Trompete. Spielst du auch nach Noten?' Meine Antwort: 'Selbstverständlich.' Er hatte eine Decke unter dem Arm, darin war eine Trompete eingewickelt. Dann zog er noch etwas aus seiner Jackentasche, nämlich Noten. Er sagte: 'Spiel doch auf der Trompete nach Noten.' Ich machte das dann. Die Töne waren gut, und er war mit dem Trompetespielen nach Noten zufrieden. Dann fragte er mich, ob ich einen Beruf habe. Meine Antwort: 'Ich habe Elektriker gelernt'. Er nickte zufrieden und fragte, ob ich Rubel hätte. 'Woher soll ich Rubel haben, ich bin doch neu hier.' Er erklärte mir, dass die Deutschen für gutes Geld ihre Klamotten verkaufen würden. Der Kapellmeister dachte, ich hätte das auch getan. Aber schon im Moskauer Butyrka-Gefängnis hatten die Blatnois meine Kleidung geklaut. Das sei schade, denn wenn ich Geld hätte, gäbe es die Möglichkeit, mit dem entsprechenden Mann zu reden, der die Arbeitsbrigaden zusammenstellte. Er könnte diesen Mann überreden, dass ich in die Brigade des Esten wechseln sollte. Er könnte gut einen Elektriker gebrauchen, denn es fielen viele Reparaturen nicht nur in den Baracken an. Das hätte den Vorteil, nicht mehr unter Tage in den Schacht zu müssen und überirdisch zu arbeiten. Und die mühseligen Anmärsche vom Lager 10 zum Schacht 29 fielen dann weg. Das wäre eine große Erleichterung. Zunächst klappte das nicht, aber Ende 1954 konnte ich in seine Brigade wechseln. Es war eine große Erleichterung, überirdisch zu arbeiten, zumal diese Schichten zeitlich günstiger waren als im Schacht. Es fielen alle möglichen Reparaturarbeiten an.

Aber schon vorher konnte ich in der Musikkapelle mitspielen. Durch den Wechsel in die Brigade des Esten konnte er bestimmen, wann wir mit der Musikkapelle proben durften. Es handelte sich hierbei um die Musikkapelle einer 'Reparatur-Brigade' des Schachtes 29. Diese Kapelle bestand aus Esten, Letten, Litauern, Russen und mir als einzigem Deutschen. Die Lagerverwaltung hatte genau festgelegt, wann und zu welchem Anlass Musik gemacht werden durfte. Feststehende Termine waren der 1. Mai und der Tag der 'Schachteure', aber auch gute Arbeitsleistungen einer Brigade waren ein solcher Anlass. Ähnlich wie Adolf Hennecke, der als Held der Arbeit gefeiert wurde, weil er die Arbeitsnorm durch 'Normüberfüllung' ständig toppte, wurde die Arbeitsbrigade wegen ihrer guten Leistung und der Soll-Übererfüllung im Schacht bei der Kohleförderung am Eingang der Stolowaja mit Blas- und Marschmusik empfangen. Wir spielten etwa eine knappe halbe Stunde zum Empfang dieser Brigade. Wegen seiner Steigerung der Arbeitsproduktivität war bei den Russen der Bergarbeiter Alexei Stachanow zum Vorbild ernannt worden. Er hatte 1935 im Bergwerk (im Oblast Lugansk) in vielen Schichten bei der Steinkohleförderung die Norm übererfüllt. Also für unsere Helden der Arbeit spielten wir am Eingang der Stolowaja. Am Tag der 'Schachteure' wurde abends in der Festhalle der 'freien Siedlung' (d.h. in der Stadt Workuta, außerhalb des Lagers) Tanzmusik geboten. Geladene Gäste waren Ingenieure, KGB-ler und Natschalniks mit deren Ehefrauen. Es wurde viel Alkohol konsumiert, und das Publikum war immer gut gelaunt. Uns wurden Tee, Zigaretten und gute Verpflegung gereicht. Absolut verboten war das Musizieren von 'Westmusik'. Stücke wie 'Rosamunde' oder eine 'böhmische Polka' waren erlaubt.


Das erste Paket

"Kurz nachdem ich die erste Karte verschickt hatte, lag ich mit einer schweren Kopfverletzung im Lagerkrankenhaus. Mit meinem dicken Verband sah ich aus wie ein indischer Fakir. Im Arbeitsabschnitt meiner Brigade war die Schachtdecke eingebrochen. Drei von uns hatte es erwischt, einen Esten, einen Letten und mich. Mit mir lagen noch sieben andere Verletzte. Ins Krankenhaus kamen nur Schwerverletzte. Nach vier Tagen, so gegen 9:00 Uhr, standen ein KGB-Mann und der ukrainische Arzthelfer Gregor in der Tür. Sie unterhielten sich kurz, dann zeigte Gregor auf mich. Der KGB-Mann kam an mein Bett, fragte mich nach meinem Namen, nach meiner Lagernummer und ob ich laufen könne und zeigte dabei auf meinen Verband. Als ich fragte, warum, gab er mir zu verstehen, dass für mich ein Paket aus Deutschland angekommen sei. Ich war sprachlos und brachte keinen Ton raus. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte noch keiner aus Deutschland irgendeine Nachricht oder ein Paket erhalten. Ich war der Erste dieser deutschen Minderheit im Lager. Das war für uns das Zeichen, unsere Angehörigen wissen, dass wir noch leben. Von da an kam bei uns die Hoffnung auf, vielleicht doch irgendwann nach Deutschland zurückzukommen. Ich ging also mit dem Offizier zur Verwaltung. Wir betraten das Büro, in der Mitte stand ein Tisch und darauf lag das ungeöffnete Paket. Drei weitere Personen saßen um den Tisch und warteten darauf, dass ich das Paket selbst öffnete. Es war von Ursel, und obendrauf lag ein Foto von einem kleinen blonden Jungen, der auf einem Fell saß. Es war mein Sohn Hubert, geboren am 8. Januar 1952. Genau zu diesem Zeitpunkt war ich in Dresden zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteil worden.

Im Lager machte es unter den Deutschen sofort die Runde, der Jost hat ein Paket aus Klingenthal bekommen. Zwei Kumpel besuchten mich auf der Krankenstation und wollten wissen, ob das stimmt. Es waren tolle Leckereien im Paket, aber das schönste war das Bild von Hubert. Auch die vier Russen wollten das Bild sehen, nickten mir anschließend freundlich zu und sprachen mit mir in einer angenehmen Art und Weise, wie man es von ihnen nicht gewohnt war.

In jedem Grubenschacht gab es auch Sprengmeister. Sie waren nicht eingesperrt, sondern Russen, die in dieses Gebiet verbannt worden waren und sich dort angesiedelt hatten. Sie konnten nach der Arbeit jeden Tag wieder zu ihrer Familie zurückkehren und tun und lassen was sie wollten, also nicht wie wir, die abends vom Schacht ins Lager zurück mussten. In unserem Schacht 29 war ein Volksdeutscher, der nach einer Schlägerei zu sechs Jahren Gulag in Workuta verurteil worden war. Soviel zur Siedlungspolitik von Stalin. Dieser Sprengmeister, er hieß Kunz und konnte noch ziemlich gut Deutsch, kam Anfang 1955 auf mich zu und teilte mir mit, dass wir Deutschen bald freikommen würden. Es seien Gespräche zwischen Russland und Westdeutschland im Gange."

Privatarchiv Rudolf Jost

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