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Siegfried
Jenkner

geboren 1930
in Frankfurt am Main

verstorben 2018
in Hannover

Lebenslauf

14.11.1930 Geboren in Frankfurt am Main.
1937 - 1949 Schulbesuche in Leipzig, Thorn und Borna mit Abitur an der Leibnizschule Leipzig.
1949 Studienbeginn in der Abteilung Kulturpolitik der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig. Wachsende Unzufriedenheit mit der sozialistischen Umgestaltung von Universität und Studium. Kontakt zu einem losen Kreis oppositioneller Studenten um den Ökonomiestudenten Herbert Belter. Gemeinsame Lektüre und Weitergabe kritischer wissenschaftlicher und politischer Literatur innerhalb und außerhalb der Universität. Verbreitung von Flugblättern gegen die verfassungswidrige Einheitsliste der bevorstehenden Volkskammerwahl.
5.10.1950 Verhaftung mit acht weiteren Studenten und einem Handwerker. Übergabe an die sowjetischen Militärbehörden.
Januar 1951 Verurteilung mit den anderen Mitgliedern der "Gruppe Belter" durch ein Sowjetisches Militärtribunal in Dresden zu zweimal 25 Jahren "Arbeits-Besserungslager" wegen "antisowjetischer Agitation" (Weitergabe kritischer Literatur), "illegaler Gruppenbildung" und angeblicher "Spionage" (Kontakt zum RIAS-Hochschulfunk). Herbert Belter wird zum Tode verurteilt und am 28. April 1951 in Moskau hingerichtet. Die offizielle Bestätigung seines Todes erfolgte erst 1994 mit der posthumen Rehabilitierung
April 1951 Deportation in die Sowjetunion.
Mai 1951 Zwangsarbeit im arktischen Kohlerevier Workuta (Schacht 9/10).
April 1955 Verlegung nach Zentralrussland in das Lager Jawas im mordwinischen Lagergebiet Potma.
10.10.1955 Im Zuge der Amnestien nach Stalins Tod Entlassung auf eigenes Verlangen in die Bundesrepublik.
1956 - 1960 Studium an der Hochschule für Sozialwissenschaften in Wilhelmshaven-Rüstersiel und der Universität Kiel mit Diplomabschluss in Wilhelmshaven.
1960 Heirat. Aus der Ehe gehen drei Kinder hervor. Das Ehepaar Jenkner hat mittlerweile acht Enkelkinder.
1960 - 1965 Wissenschaftlicher Assistent im Fach Politikwissenschaft bei Prof. Bruno Seidel, zunächst in Wilhelmshaven, ab 1962 an der Universität Göttingen.
1965 Sozialwissenschaftliche Promotion in Göttingen.
1965 - 1969 Geschäftsführer der Zentralstelle für auswärtige Seminarkurse der Universität Göttingen.
1969 - 1996 Professor für Politikwissenschaft an der Pädagogischen Hochschule Niedersachsen (Abteilung Hannover), ab 1978 Universität Hannover, mit den Arbeitsschwerpunkten Schulverfassung, Bildungspolitik und Totalitarismusforschung.
1984 - 1990 Mitarbeit im "Inter University Centre for Postgraduate Studies" in Dubrovnik.
1990 - 2000 Engagement im "European Forum for Freedom in Education" mit Vorträgen und Publikationen in mehreren mittel- und osteuropäischen Ländern.
1993 - 1997 Lehrauftrag und Honorarprofessur an der St. Petersburg State University of Pedagogical Arts.
Seit 1993 Mitgliedschaft und Aktivitäten im deutschen Zweig der russischen Häftlings- und Menschenrechtsvereinigung MEMORIAL.
1994 Vollständige Rehabilitierung der gesamten "Gruppe Belter".
1996 Emeritierung.
2007 Auszeichnung der noch lebenden fünf Mitglieder der "Belter-Gruppe" mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande.
20.6.2018 Verstorben in Hannover.

Biografisches

"Einer der Studenten, den ich an der Universität Leipzig kennenlernte, war Herbert Belter, Ökonomie-Student, der eigentlich ein Paradestudent des neuen Systems hätte sein können. Er kam aus ganz kleinen Verhältnissen und war Mitglied in der SED. Aber er hatte sein selbständiges Denken nicht aufgegeben. Er empfand die Entwicklungen genau so schlecht wie andere auch. Er hatte bereits einige Gleichgesinnte kennengelernt und über diese lernte ich Herbert Belter kennen.

Die Bezeichnung 'Gruppe Belter' ist falsch. Es ist eine Bezeichnung der Anklage. Wir waren keine Gruppe in einem festen organisatorischen Sinne, sondern ein loser Kreis von gleichgesinnten Studenten, die unterschiedlich aktiv waren. Aber die sowjetische Anklage brauchte eine Gruppe, weil es auch einen Paragraphen zur illegalen Gruppentätigkeit gab.

Ich war ein oder zwei Mal in Berlin beim RIAS, habe auch kleine Berichte dorthin geschrieben, was mir später als Spionage angekreidet wurde, obwohl es eher Stimmungs- und Ereignisberichte aus der Universität waren. Ich habe kritische Literatur studiert, auch weitergegeben, innerhalb und außerhalb der Universität. Das war im Sommersemester 1950.

Die DDR war im Oktober 1949 gegründet worden. Die erste Wahl zur Volkskammer hätte mit der Gründung stattfinden sollen, war aber verschoben worden auf den Oktober 1950. Die schon verabschiedete Verfassung der DDR sah vor, dass die Wahl nach den Grundsätzen des Verhältniswahlrechts stattfinden sollte. Diese Regelung war aus der Weimarer Reichsverfassung übernommen worden. So wurden die ersten Nachkriegslandtagswahlen durchgeführt mit nicht sehr guten Ergebnissen für die SED. Die SED propagierte jetzt eine Einheitsliste, eine vorher festgelegte Liste mit festen Anteilen der einzelnen Parteien. Dagegen gab es heftigen Protest und Widerstand, sowohl in der DDR als auch von außen. Wir beteiligten uns mit Flugblättern an diesen Protestaktionen. Und das war eigentlich alles, aber es reichte für drastische und unverhältnismäßig hohe Strafen."

Jenkner, Siegfried: Gedächtnis der Nation. Der Weg zum Widerstand, Februar 2013, Youtube-Video (aufgerufen am 11. Juni 2013).

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