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Werner
Gumpel

geboren 1930
in Buchholz
(Sachsen)

Lebenslauf

21.11.1930 Geboren in Buchholz (Sachsen), heute Annaberg-Buchholz.
1937 – 1949 Volksschule Buchholz, Oberschule Annaberg.
1949 – 1950 Studium im Fach Journalismus an der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig.
5.10.1950 Verhaftung durch die deutsche Polizei (SSD) in Leipzig.
9.10.1950 Übergabe an den sowjetischen KGB zusammen mit acht weiteren Studenten und einem Tischlergesellen. Überstellung in das KGB-Kellergefängnis in Dresden, Bautzner Straße.
20.1.1951 Verurteilung durch ein sowjetisches Militärtribunal zu 2x25 Jahren Freiheitsentzug wegen "antisowjetischer Propaganda" (Verteilung von Flugblättern und Broschüren), angeblicher Spionage (Verfassen einer Sendung für den Sender RIAS in Westberlin) und Gruppenbildung, Artikel 58, Abs. 6, 10 und 11 des sowjetischen Strafgesetzbuchs. Das Strafmaß wurde zusammengezogen auf 25 Jahre Freiheitsentzug.
Im selben Prozess wird Herbert Belter zum Tode verurteilt und am 28. April 1951 in Moskau hingerichtet.
April 1951 Deportation in die Sowjetunion, dort in das Strafgebiet Workuta, 160 Km nördlich des Polarkreises. In Workuta zunächst im Lager Nr. 13, Schächte 9 und 10, vorwiegend über Tage beim Häuserbau in der Tundra eingesetzt, zwei Monate unter Tage im Kohlebergbau.
1953 Verlegung in das Lager des 30. Schachtes.
1955 Verlegung in das Lager des neu eröffneten 32. Schachtes.
Oktober 1955 Entlassung zu den Eltern in die "DDR" nach dem Besuch Adenauers in Moskau.
27.10.1955 Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland.
April 1956 Beginn des Studiums an der Hochschule für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Nürnberg (heute Universität Erlangen) mit Abschluss als Diplomvolkswirt im Frühjahr 1960.
1960 - 1964 Wissenschaftlicher Assistent am Verkehrswissenschaftlichen Institut der Universität Hamburg. Dort 1963 Promotion zum Dr. rer. pol.
1964 Universität München, Institut für Wirtschaft und Gesellschaft Ost- und Südosteuropas. Betreuer eines "Aufbaustudiums Osteuropawirtschaft".
1972 Habilitation an der Staatswirtschaftlichen Fakultät der Universität München.
1974 Ernennung zum ordentlichen Professor und Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaft und Gesellschaft Südosteuropas. Vorstand des Instituts.

Zusammenarbeit mit verschiedenen Universitäten in Bulgarien, Rumänien, Ungarn, Jugoslawien, Südkorea sowie mit der Hoover Institution on War, Revolution and Peace an der Stanford University (USA). Intensive Zusammenarbeit mit den Universitäten in Istanbul, Ankara, Erzurum sowie der Kocaeli-Universität in Izmit in der Türkei.
1990 Ernennung zum Dr. h. c. der Hacettepe Universität Ankara.
1994 Rehabilitierung der Mitglieder der Belter-Gruppe durch die Oberste Justizstaatsanwaltschaft Russlands.
April 1996 Emeritierung.
2007 Auszeichnung der Überlebenden Mitglieder der Belter-Gruppe mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande durch den sächsischen Ministerpräsidenten.
Prof. em. Dr. Werner Gumpel ist verheiratet. Er hat zwei Söhne und drei Enkelkinder.

Biografisches

Die Überlebensstrategie

Die Überlebenschancen sind gering. Was kann ich aber tun, wie kann eine Überlebensstrategie aussehen? Am wichtigsten scheint mir, dass ich alles tue um mich vor Krankheiten zu bewahren. Dass dies leichter gesagt als getan ist, hat mir die Infektion mit Hepatitis gezeigt. Doch sie hat mich auch gelehrt, die Augen in Hinblick auf Ansteckungsgefahren besonders weit offen zu halten. Bei den gegebenen hygienischen Verhältnissen ist das jedoch eine schwierige Aufgabe: Schmutzige Latrinen, fehlende Waschgelegenheiten, Wasser aus vermoosten Fässern, geschöpft und getrunken mit einem Becher, aus dem fünfzig und mehr Personen ohne zwischenzeitliche Säuberung trinken, und die Enge auf den Schlafbrettern. Das alles sind keine guten Voraussetzungen für präventive Maßnahmen.

Zweiter wesentlicher Schritt: Bei der Arbeit vorsichtig sein, Unfälle vermeiden. Bei der herrschenden Schlamperei und der fehlenden Sicherheitstechnologie ist auch dieses ein schwieriges Unterfangen, doch ist trotz allem die Zahl der Unfälle relativ gering.

Dritter Schritt: Die Kleidung in Ordnung halten – so gut das geht. Nähnadeln sind ein sehr rarer Gegenstand. Ich muss lange suchen, bevor ich einen Mitgefangenen finde, der bereit ist mir die seine auszuleihen, wenn ich etwas zu reparieren habe. Intakte Kleidung ist im Polarwinter eine wichtige Voraussetzung zur Vermeidung von Erfrierungen. Vor allem ist wichtig, mit in warme Fußlappen gehüllten Füßen in die Filzstiefel zu steigen und sie, falls erforderlich, rechtzeitig zur Reparatur zu geben. Mein Barackenkamerad Kurt, im "Zivilleben" Fabrikarbeiter, hat einmal nicht Acht gegeben. Er erfror sich den großen Zeh am rechten Fuß. Der musste amputiert werden. Ebenso wichtig ist es, Erfrierungen des Gesichts vorzubeugen. Da es Schutzmasken nicht gibt, muss man selbst die Initiative entwickeln und sich Stoff oder ein Tuch für den Gesichtsschutz beschaffen.

Vierter Schritt: Nicht auffallen. So lange man die Arbeit nicht verweigert und die tägliche Arbeitsnorm einigermaßen erfüllt, und sich nicht auf einen Streit mit dem Brigadier oder dem Desjatnik einlässt, hat man weitgehend Ruhe. Ein Streit mit einem der beiden kann zu Repressionen und Schikanen bei der Arbeit führen. Der Brigadier verfügt in diesem Sinne über ein großes Maß an Macht. Besonders schlimm ist es, wenn er willkürlich die Normerfüllung falsch protokolliert und deswegen die Essensration gekürzt wird. Selbstverständlich, dass man auch einem Streit mit den Wachsoldaten aus dem Weg geht.

Fünfter Schritt: Keine politischen Diskussionen. Selbst Menschen, die man gut zu kennen glaubt, können "Klopfer" sein. Leicht landet man dann im Strafisolator. Und sollte doch ein Wunder geschehen und eine vorfristige Entlassung anstehen, dann könnten entsprechende Einträge alles zunichtemachen. Für uns Deutsche kommt das kaum in Frage, ebenso wie für die Mehrzahl der "einheimischen" politischen Häftlinge, die ja alle hohe Strafen haben. Doch zu besonderen Tagen, beispielsweise den Jahrestag der Oktoberrevolution, werden jedes Jahr Teilamnestien erlassen, wohl nicht aus Gerechtigkeitsgründen als vielmehr um die überfüllten Gefängnisse und Lager zu entlasten. Allerdings sind Häftlinge mit langen Haftstrafen stets davon ausgenommen.

Sechster und wohl wichtigster Schritt: Die Arbeit mit geringstem Krafteinsatz verrichten. Nach Tricks suchen, die Arbeitsnorm zwar "auf dem Papier" zu erfüllen, in Wirklichkeit aber wenig zu leisten. Kürzlich haben zwei ukrainische Kameraden und ich das so gemacht: Unsere Aufgabe war es, mit Ziegelsteinen beladene Eisenbahnwaggons zu entladen. Wir warfen die Ziegel vom Waggon auf die neben dem Bahndamm stehenden Autos. Diese brachten sie an den Ort der Verwendung. Da die Lastkraftwagen eine Kippvorrichtung hatten, wurden sie an Ort und Stelle vom Wagen geschüttet. Dort blieben sie liegen. Was wurde von uns für die Normerfüllung abgerechnet: Abladen der Eisenbahnwaggons - Aufschichtung der Ziegel am Bahndamm – Beladen der Lastkraftwagen - Entladen der Lastkraftwagen vor Ort - Schichten der Ziegel.

Wir haben in jener Nacht unsere Arbeitsnorm zu mehr als 200 Prozent erfüllt, und nun gab es für einige Tage mehr Brot und mehr Kascha. Dass bei der unpfleglichen Behandlung viele Ziegelsteine zu Bruch gegangen sind, hat unseren Beitrag zum "Aufbau des Kommunismus" zusätzlich minimiert.

Siebenter Schritt: Nicht rauchen. Zum Rauchen steht praktisch nur Machorka zur Verfügung, der an sich schon ungesund ist. Zum Rauchen in Zeitungspapier gewickelt, ist er doppelt schädlich. Nicht wenige der Gefangenen tauschen ihre kärgliche Zuckerration oder gar einen Teil des Brotes in Machorka, und vermindern damit ganz erheblich ihre Überlebenschancen.

Alkohol dagegen stellt keine Gefahr dar, da an ihn praktisch nur die Brigadiere kommen indem sie irgendwelche krummen Geschäfte machen.

Achter Schritt: Versuche dich den landesüblichen Sitten anzupassen, wenn du diese mit deinem Gewissen vereinbaren kannst.

Dies also sind die Grundsteine meiner Überlebensstrategie, wie ich sie mir vorstelle. Doch dies ist natürlich alles nur Theorie, da die Behandlung im Lager sich von dem in der ganzen Sowjetunion geltenden System nicht unterscheidet. Es ist das System der Systemlosigkeit. Logisches Denken muss hier vergessen werden, logische Schlüsse sind nicht möglich. Dennoch habe ich ein Gerüst entworfen, an dem ich mich festzuhalten gedenke. Allein der Gedanke daran, dass ich jetzt einen Verhaltenskodex besitze, stärkt meinen Überlebenswillen und das Vertrauen in mich und in meine innere Kraft.

Werner Gumpel: Workuta – Die Stadt der lebenden Toten.
Ein Augenzeugenbericht, Leipzig (Leipziger Universitätsverlag) 2015,
S. 165ff.

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