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Werner
Sperling

geboren 1932
in Mölbis

verstorben 2019
in Schwerte

Lebenslauf

16.3.1932 Geboren in Mölbis (bei Leipzig) als fünftes von zehn Kindern.
1948–1950 Berufsausbildung eines Bergmaschinenmannes im SAG-Betrieb Espenhain; danach Schüler im Vorsemester der Bergingenieurschule Schule Zwickau.
Mai 1950 Kontaktaufnahme mit der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU) und dem amerikanischen Geheimdienst CIA.
6.12.1950 Gefangennahme in Mölbis durch die Staatssicherheit. Erstes Verhör in Leipzig. Anschließend Haft im Polizeigefängnis in der Potsdamer Bauhofstraße.
16.12.1950 Übergabe an den sowjetischen Geheimdienst. Haft im Gefängnis des sowjetischen Geheimdienstes in der Lindenstraße 54/55, Potsdam.
27.4.1951 Verurteilung durch ein Sowjetisches Militärtribunal in Potsdam nach Artikel 58-6 ("Spionage") des StGB der RSFSR zu 25 Jahre ITL (Arbeits- und Besserungslager). Im selben Gruppenprozess werden sein Bruder Herbert Sperling und dessen Verlobte Ingeborg Löwendorf zu 25 Jahren sowie Manfred Schnee zum Tod verurteilt. Manfred Schnee wird am 4. Juli 1951 in Moskau hingerichtet.
Mai 1951 Transport von Berlin-Lichtenberg über Brest-Litowsk, Gomel, Wologda nach Workuta. Herbert Sperling wird in Moskau von seinem Bruder getrennt und nach Taischet transportiert. Inge Löwendorf kommt ebenfalls in ein Arbeitslager in Workuta.
Herbst 1951 Ankunft in Workuta. Zwangsarbeit in den Schächten 1 (Kapitalschacht), 40, 12/14/16.
Sommer 1953 Rücktransport über das Sammellager Tapiau/Ostpreußen (heute Gwardeisk).
27.12.1953 Übergabe an die deutschen Behörden. Ankunft im Lager Fürstenwalde/Spree.
28.12.1953 Entlassung aus dem Lager Fürstenwalde/Spree nach Mölbis.
Sommer 1954 Arbeit als Montageschlosser, Arbeitsvorbereiter.
1956 Beginn des Ingenieursstudiums in Leipzig/Markkleeberg.
Juli 1961 Flucht nach West-Deutschland, Studium in Verfahrenstechnik in Aachen und Krefeld. Anschließend Dozent an verschieden technischen Fach- und Hochschulen im In- und Ausland.
19.12.2000 Rehabilitierung durch die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation.
  Nach Eintritt in den Ruhestand, Zeitzeuge in Schulen, Gefängnissen und Vereinen.
18.4.2019 Verstorben in Schwerte. Werner Sperling war verwitwet, aus der Ehe ging eine Tochter hervor.

Biografisches

Mutter

"Das Schicksal von Herbert und mir, die 1950 in die stalinistische Justizmaschinerie gerieten und mehrere Jahre in sowjetischen Gefängnissen und Straflagern verbringen mussten, hat unsere Mutter und die ganze Familie sehr belastet. Unsere Mutter hat nach unserer Verhaftung unaufhörlich nach Herbert und mir gesucht und ist bei allen erdenklichen Instanzen, amtlichen Stellen und vielen Gefängnissen in der DDR vorstellig geworden. Selbst den tagelangen Marsch von Mölbis nach Berlin hat sie auf sich genommen, denn eine Bahnfahrkarte hatte man ihr an der Eisenbahnstation im benachbarten Espenhain verweigert. Der Fahrkartenschalter in Espenhain war damals mit Frauen aus dem Dorf Mölbis besetzt, die Mutters große Sorgen um uns Söhne kannten und die eigentlich mit ihr hätten mitfühlen müssen. Doch es half kein Bitten, sie blieben hart und unerbittlich. Heute, nach der Wende, wollen sie ihre Hände in Unschuld waschen! Unser spurloses Verschwinden und unsere ungeklärten Schicksale brachten tiefes Leid über die ganze Familie.

Der damals für Mölbis zuständige Volkspolizist Gerhard Wünsch aus dem Nachbarort Trages erklärte eines Tages unserer Mutter Antonia, die mit der Suche und den Nachforschungen nie aufgehört hatte, dass ihre Söhne Herbert und Werner in Bautzen schon längst als Verbrecher erschossen worden seien. Man muss wissen, dass das Wort „Bautzen“ zu dieser Zeit bereits ein angsteinflößender und berüchtigter Begriff für politisch Verfolgte und Verhaftete in der SBZ (Sowjetische Besatzungszone) bzw. DDR war, denn Bautzen II war eine Sonderhaftanstalt. Diese niederschmetternde Bemerkung des Volkspolizisten wollte Antonia Sperling nicht hinnehmen, und so suchte sie unermüdlich weiter. Selbst vor den Toren des Gefängnisses in Bautzen hat sie stundenlang gestanden und um Auskunft gebettelt. Man hat sie schließlich wie einen Hund davongejagt."


Günther Murek und Pfarrer Reinhard Gnettner

"Während der viermonatigen Untersuchungshaft im sowjetischen Geheimdienstgefängnis in der Potsdamer Lindenstraße war Günther Murek für mich ein väterlicher Freund und Berater. Er machte uns allen stets Mut und richtete uns wieder auf, wenn wir ein seelisches Tief hatten. Ich werde ihn nie vergessen! Er gehörte zur 'Schubert-Gruppe' aus Guben. Diese „Gruppe“ bestand eigentlich aus zwei Gruppen. Die 'Hauptgruppe' umfasste 21 Personen, elf von ihnen wurden zum Tod verurteilt. Die 'Nebengruppe' bestand aus zehn Personen. Eine Frau aus der 'Schubert-Gruppe', Anna Schubert, rief abends oft nach ihren Kindern: 'Brigitte, Wolfgang, ich bin auch hier!' Das war sehr tapfer! Diese Frau beeindruckte mich sehr, obwohl ich sie nie zu Gesicht bekam. Sie wurde in Moskau mit ihrem Mann und mit ihrem Sohn erschossen.

Zur 'Schubert-Gruppe' gehörte auch Pfarrer Gnettner. Den hatten sie direkt nach dem Gottesdienst noch im Talar vor der Kirche verhaftet. Dieser evangelische Pfarrer rief trotz strenger Verbote öfter aus dem Zellenfenster das 'Vaterunser' oder Bibelsprüche, und zu Weihnachten zitierte er aus der Weihnachtsbotschaft; das war für alle Gefangenen sehr beeindruckend. Pfarrer Gnettner saß in der Zelle 54, später dann in der Zelle 22. Wenn er sich meldete, wurde es im ganzen Gefängnis still. Überall wurden, trotz Verbot, die Fenster geöffnet, und die Häftlinge lauschten voller Andacht in die Nacht. Wir hörten aber auch das Rennen und Hasten der Schließer und Posten, das dann immer bald einsetzte. Pfarrer Gnettner hat viel gewagt und auch bewusst die harten Strafen dafür auf sich genommen. Wer aus dem Zellenfenster rief, wurde mit Schlägen, Karzer oder Wasserkarzer bestraft.

Der Kommandant, der die Strafen verhängte, war dabei nicht zimperlich. Den Pfarrer hat er immer hart bestraft."


Charlotte Köhler

"Die Zelle war im oberen Bereich weiß gekalkt, das untere Drittel hatte einen Anstrich von olivgrüner Ölfarbe. Es brannte Tag und Nacht Licht. Die Glühbirne befand sich in der kleinen Lüftungsöffnung über der Tür. Ich stellte diese Zelle förmlich auf den Kopf, untersuchte den Fußboden und die Wände und wurde fündig. Ich zählte Striche und las Namen; vor uns hatten in dieser Zelle schon zahlreiche Todeskandidaten ausharren müssen. Als ich die Luftöffnung untersuchte, entdeckte ich eine Brotkugel, etwa sechs Zentimeter im Durchmesser. Diese Brotkugel brach ich auf, und zum Vorschein kam die Abschrift eines Gnadengesuchs. Es war eine karierte DIN A5-Seite, mit Kopierstift beschrieben. Die Verfasserin des Gnadengesuchs war Frau Charlotte Köhler, die Frau von Oberbürgermeister Erwin Köhler aus Potsdam. Das Gnadengesuch war am 3. Dezember 1950 geschrieben worden. Die 'Gruppe Köhler' wurde am 2. Dezember 1950 verurteilt. Neben dem Text des Gnadengesuchs standen auch die Adressen von vier weiteren zum Tode verurteilten Frauen aus Dresden und Leipzig auf dem Stückchen Papier. Nachdem wir alle den Text studiert hatten, bestanden meine Zellengefährten und auch mein Bruder darauf, dass ich diesen Zettel vernichten sollte. Doch ich hörte nicht auf ihren Rat und versteckte das Papier in der Zunge meiner Bundschuhe. Als wir auf Transport nach Russland gingen, wurden wir im Gefängnis in Berlin-Lichtenberg intensiv gefilzt, und dabei fanden sie diesen Zettel. Nackt, wie ich war, musste ich mit den Posten in den Waschraum gehen, dort wurde ich mit einer Koppel furchtbar verprügelt. Die Namen auf dem Zettel blieben mir noch lange Zeit im Gedächtnis."


Leichenbestattung in Workuta

"Am nächsten Tag musste ich allerdings zum Pferdestall. Man hatte mich ohne viele Worte zu verlieren abgelöst. Otto Raabe war sehr traurig über diese Entscheidung des Brigadiers. Er musste fortan mit einem Russen arbeiten. Im Pferdestall musste ich nun als Kutschknecht arbeiten. 'Der Brigadier des Pferdestalles', so dachte ich, 'hat ein richtiges Pferdegesicht.' Er soll es auch mit den Pferden gemacht haben - wurde erzählt. Im Stall zeigte er mir, wie man ein Pferd ein- und ausspannt. Mit dem Krummholz (Duga) ist es nicht so einfach. Ein paar Mal probiert, dann klappte es. Ich bekam ein halbblindes, altes Pferd. Es hieß Awrillo. Im Lager musste ich mit Pferd und Schlitten alles Mögliche hin und her transportieren. Ich musste Baumaterial fahren, Bretter, Steine, Zement und was da alles war. Die schlimmste Arbeit war das Kutschieren von Fäkalienkübeln. Mit dieser Arbeit hatte ich zwar nicht direkt etwas zu tun, das haben zwei Invaliden gemacht. Die gefrorenen Exkremente wurden aus der Latrine herausgehackt und in Kübel geladen. Die Kübel wurden außerhalb der Zone entleert. Einfach in die Tundra gekippt.

Eines Tages musste ich mich mit meinem Gespann am Krankenhaus melden. Dort erwarteten mich schon zwei Leichenbestatter. Auf meinen Schlitten wurde ein weißes Tuch gelegt und darauf legte man zwei Personen. Jeder war nackt und hatte am großen rechten Zeh ein Holztäfelchen. Auf dem Täfelchen standen der Name, das Geburts- und Sterbedatum und die Häftlingsnummer. Es waren zwei ältere Männer (nur noch Haut und Knochen), die im Krankenhaus gestorben waren. Die Leichen wurden in das weiße Tuch eingeschlagen und ich musste sie zur Wache fahren. An der Wache überprüften zwei Posten die sogenannten Papiere, die Holztäfelchen und überzeugten sich, ob die beiden auch wirklich tot waren. Am Schluss nahm einer der Posten ein Brecheisen und schlug auf die Köpfe. Die Köpfe knackten laut. Das Geräusch hörte sich wie Nussknacken an. Mir drehte es den Magen um, lange hat mich das Geräusch verfolgt. Die Leichenbestatter kannten diese brutale Zeremonie, sie haben stumm zu geschaut. Begleitet wurden wir zum Friedhof durch zwei schwerbewaffnete Posten. Das waren junge Komsomolzen, nicht älter als ich. Solche Burschen waren äußerst gefährlich, sie nahmen ihre Aufgabe ernst. Mit solchen Typen bekam man auch keinen Kontakt. Der Boden war hart gefroren. Wie sollten wir die Toten begraben? Mit Schaufel und Hacke haben wir zwei Löcher gegraben, nicht tiefer als 50 - 60 cm. Die beiden wurden dann nackt in die Löcher gelegt und zugeschaufelt. Mich hat die Sache so ergriffen, aus Ehrfurcht und Angst habe ich die Hände gefaltet und schweigend zugeschaut. Die Posten haben während dessen geraucht, gelacht und sich laut unterhalten. 'Solche gottlosen Geschöpfe', dachte ich. Mit Wehmut lenkte ich meinen Schlitten zurück ins Lager. Auf das Abendessen habe ich an diesem Tag verzichtet. Deprimiert und wieder von Heimweh geplagt habe ich mich auf meine Pritsche gelegt und versucht zu schlafen. In dieser Nacht bekam ich hohes Fieber."


Sperling, Werner: Als der Wind sich drehte. Von Mölbis nach Workuta. Erinnerungen eines Zeitzeugen, Schwerte (Selbstverlag), 2009, S. 6-8, S. 34-35, S. 51-52 und S. 98-100.

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