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Biografisches

Über Leben in Workuta

In der ersten Zeit waren wir in einer Baracke untergebracht, die vollgestopft war mit Menschen. Es gab durchgehende Pritschenreihen, und zwar eine untere und eine obere Pritschenreihe, die so mit Häftlingen belegt war, dass man fast Gesicht an Gesicht lag. Wenn sich einer umdrehen wollte, drehte sich die Reihe automatisch mit. Auf diese Weise gewöhnte man sich auch an alle möglichen Arten von Gerüchen. Als Unterlage diente eine sehr dünne, ausgeleierte Häckselmatratze. Zugedeckt war ich in der ersten Zeit nur mit einer Art Wattejacke, die Bekleidung war für die Leute über Tage jämmerlich. Man bekam irgendein leinenes Unterzeug, eine Wattehose, die schon gebraucht war, natürlich auch geflickt, eine Art Hemd mit langen Ärmeln und einen sogenannten Buschlat, eine Wattejacke, die ebenfalls dünn, getragen und geflickt war. Dazu eine Art Schapka. Für die Füße bekam man Fußlappen. Über die Fußlappen zog man einen Wattestrumpf, und den Wattestrumpf steckte man in eine Art Schuhwerk, das aus alten Reifen hergestellt war. Das Gemeine an dieser Bekleidung lag darin, dass sich der Schnee in dieser Art Boots-Schuhen sammelte, bei Wärme taute und bei Nässe wieder gefror. Erfrierungen waren also etwas Normales. Meine großen Zehen waren noch Jahre nach der Rückkehr völlig unempfindlich.

Als Häftling über Tage wurde man einer Brigade zugeteilt, die vorwiegend im Hausbau in der Stadt Workuta tätig war, das heißt, man wurde dann morgens früh um 6 Uhr über die Tundra runter in das Tal der Workuta, wieder rauf in die Stadt gebracht, um dort Häuser zu bauen. Meine Aufgabe bestand darin, mit einer Spitzhacke den gefrorenen Tundraboden aufzuhacken, damit dort Pfähle für die Holzbauten, die auch zum Teil mehrstöckig waren, gegründet werden konnten. Das sah also so aus, dass man den gefrorenen Tundraboden durchhacken musste, bis man auf die getaute Schicht kam. Das war nach meiner Erinnerung nach etwa eineinhalb bis zwei Metern der Fall. Dann kam man auf eine sehr pampige, klebrige Lehmschicht, die ihrerseits meterstark war, wohl so sieben bis acht Meter dick. Und danach stieß man auf die sogenannte Permafrostschicht. Bis dahin musste gegraben werden, damit die Häuser halten konnten. Und wie ich gesehen habe, stehen einige dieser Häuser immer noch.

Die Verpflegung richtete sich nach der Arbeitsleistung. Wer die Norm erfüllte, bekam die Kesselkategorie 2. Wer die Norm nicht erfüllte, bekam den Kessel 1. Wer die Norm übererfüllte, der bekam so eine Art Kessel 3, was die unterste Kategorie der Kessel war, den die Bergleute bekamen. Ich hatte fast immer den Kessel 1. Diese Verpflegung bestand aus einem Stück klebrigen Brot undefinierbarer Zusammensetzung. Das Brot wirkte voluminös, man konnte das dann bis auf eine Handvoll zusammenquetschen. Ferner gab es dann irgendwelche "Kohlsuppen", die vielleicht mit Kohl gekocht worden waren, bei denen man aber – wenn man Glück hatte – vielleicht ein, zwei Blättchen finden konnte. Ansonsten gab es sehr viel kleinen Fisch, offenbar, um Skorbut vorzubeugen. Dazu gab es wässrigen Brei, manchmal ein kleines Stückchen Weißbrot, in der Größe von zwei Dominosteinen.

Außer im Hausbau waren wir natürlich auch für andere Arbeiten zuständig, je nach Bedarf. Dazu gehörte Straßenbau, dazu gehörte allerdings auch das Freiräumen der Schienen von den Schneemassen. Der Winter dauerte in der Regel zehn Monate. Während der kalten Jahreszeit gab es in Workuta häufig Schneestürme. Der Einsatz bei solchen Kommandos war insoweit von Vorteil, weil die Erfüllung der Norm – egal, welche Norm vorausgesetzt wurde – sehr leicht war. Niemand kann Schnee messen, der geschaufelt worden ist, weil er nicht weiß, wieviel Schnee man tatsächlich weggeräumt hatte. Also, auch hier wurde kräftig gemogelt. Warum sollte es bei den Häftlingen anders sein als im gesamten sozialistischen System. Im Gegenteil, die Häftlinge waren eher darauf angewiesen, noch mehr zu schummeln und zu betrügen, denn davon hing ja ihre Existenz ab.

Die klimatischen Bedingungen waren mörderisch. Außentemperaturen bis minus 28 Grad ohne Wind wurden noch als angenehm empfunden. Jedoch führte jeder kleine Wind dazu, dass man das Gefühl hatte, mit Messern geschnitten zu werden. Als Brillenträger war ich besonders schlecht dran, weil die Bügel am Gesicht leicht festfroren. Eine Gesichtsmaske konnte ich mir kaum vorbinden, weil dann die Brillengläser beschlugen und schnell eine dicke Eisschicht aufwiesen. Ich musste dann die Brille mit den gefrorenen Handschuhen – das waren so eine Art Wattefäustlinge – frei reiben. Das ging sehr schlecht. Also zog man sich den Handschuh aus, um mit den warmen Fingern ein Loch in die Eisschicht der Brille zu bringen. Anschließend musste man sehen, dass man die weiß gewordenen Finger wieder zum Leben erweckte. So ging das, sobald man unterwegs war, ständig hin und her. Außentemperaturen mit gemessenen Temperaturen von bis zu minus 60 Grad waren keine Seltenheit. Das Klima war auch deshalb mörderisch, weil in dieser Wetterecke des Polargebietes sich das Wetter alle zwei Stunden änderte. Man konnte also bei strahlendem Sonnenschein rausgehen, und zwei Stunden später in einem ganz dicken Schneesturm, einer Purga, stecken.

Drescher, Anne: Haft am Demmlerplatz. Gespräche mit Betroffenen. Sowjetische Militärtribunale Schwerin 1945-1953, 2. Auflage, hrsg. vom Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR in Mecklenburg-Vorpommern, Schwerin 2004, S. 119-121.

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