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Helga
Sperlich

geb. Starke
geboren 1932
in Landsberg/Warthe

Lebenslauf

30.5.1932 Geboren in Landsberg/Warthe.
1938 Besuch der Volksschule in Landsberg/Warthe.
1942 Besuch des Lyzeums in Landsberg/Warthe.
30.1.1945 Flucht aus Landsberg, über Werder/Havel nach Naumburg/Saale.
1945-1950 Schulbesuch in Naumburg mit Abschluss Abitur.
Juli 1950 Übersiedlung nach Glindow bei Werder/Havel.
Ab 1.9.1950 Wissenschaftliche Rechnerin im Astrophysikalischen Institut/Potsdam. Arbeitgeber: Deutsche Akademie der Wissenschaften.
29.8.1951 Verhaftung in Glindow im Zusammenhang mit der Werderaner Jugend-Widerstandsgruppe durch Mitarbeiter des MfS. Einlieferung ins Gefängnis Bauhofstraße, Potsdam.
Anfang Sep. 1951 Überstellung an das MGB (später KGB), Untersuchungsgefängnis Lindenstraße, Potsdam.
8.1.1952 Prozess vor einem Sowjetischen Militärtribunal. Verurteilung zu 25 Jahren Freiheitsentzug im Arbeits-Besserungslager nach Art. 58-6/Teil 1, 58-10/Teil 2, 58-11 des StGB der RSFSR. Die drei Mitangeklagten erhalten folgende Gefängnisstrafen: Stefanie Brabetz 25 Jahre, Ilse Graatz 20 Jahre und Ines Geske 15 Jahre.
15.3.1952 Deportation nach Workuta über Berlin-Lichtenberg, Brest, Gomel, Moskau, Gorki und Rusajewka.
11.5.1952 Ankunft in Workuta. Zwangsarbeit im Lager Predschachtnaja u.a. beim Bahnstreckenbau.
17.6.1953 Beginn des Rücktransports nach Tapiau bei Königsberg.
23.12.1953 Beginn der letzten Etappe des Transports über Litauen, die Sowjetunion, Polen und Frankfurt/Oder.
28.12.1953 Entlassung nach Glindow bei Werder/Havel.
8.1.1954 Flucht nach Westberlin.
16.1.1954 Ankunft in Friedland.
Ab 3.5.1954 Telefonistin im Fernmeldeamt in Reutlingen.
25.9.1954 Eheschließung mit Fritz Sperlich, der von 1945 bis 1953 als Kriegsgefangener in verschiedenen sowjetischen Straflagern war.
21.3.1996 Rehabilitierung durch die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation.
  Helga Sperlich lebt heute in Reutlingen. Seit 1992 ist sie Rentnerin und seit 2016 verwitwet. Sie hat zwei Töchter, vier Enkel und fünf Urenkel.

Biografisches

Klopfgespräche und Trompetenklänge

Als ich am 30. Mai 1932 in Landsberg/Warthe geboren wurde, schien ein geradliniger Lebensweg vor mir zu liegen. Nichts deutete darauf hin, dass der zu einem wahren Zick-Zack-Kurs geraten würde.

Am 7. März 1940 starb meine Mutter, erst 34 Jahre alt.

Am 30. Januar 1945 flüchteten wir aus Landsberg. Es gab keine Rückkehr. Landsberg wurde polnisch und heißt heute Gorzów.

Am 29. August 1951 wurde ich von der Staatssicherheit der DDR in Glindow bei Werder/Havel verhaftet. Es folgten die Überstellung an das Sowjetische Ministerium für Staatssicherheit, die Verurteilung zu 25 Jahren Freiheitsentzug und die Zwangsarbeit im Lager Workuta.

Jedes dieser Ereignisse verursachte einen Knick in meiner Biografie, bedeutete eine Richtungsänderung.

Am Rande dieser Ereignisse gab es aber auch beeindruckende Begegnungen und berührende Geschichten, die im Gedächtnis haften geblieben sind. Ich will Beispiele benennen.

Während der Untersuchungshaft im Gefängnis Potsdam, Lindenstraße, war Heini Fritsche mein Zellennachbar. Dass wir Klopfpartner wurden, hat sich so ergeben, da wir die beiden Jüngsten in den Zellen 21 und 22 waren. Klopfen war die einzige Möglichkeit, sich zu verständigen, alle Gefangenen haben das praktiziert und natürlich war es verboten. Heini und ich waren schnell perfekt beim Klopfen und merkten bald in langen Klopfgesprächen, dass wir auf der gleichen Wellenlänge lagen. Es hat uns beiden die Zeit, in der wir unter katastrophalen Bedingungen, jeweils zu viert in einer sehr engen Zelle leben mussten, ein wenig erträglicher gemacht. Wir konnten uns gegenseitig Mut zusprechen, manchmal trösten oder nach einem Verhör wieder zur Ruhe kommen. Nach vier Monaten endete unsere Klopfverbindung. Ohne Vorankündigung wurde ich am 8. Januar 1952 aus der Zelle geholt und zusammen mit Ines Geske, Ilse Graatz und Stefanie Brabetz – alle von der Werder-Gruppe – vor Gericht gestellt.

Wir wurden zu hohen Haftstrafen verurteilt und warteten nach dem Prozess in der Tribunalzelle auf den Transport. Der begann am 15. März 1952 und führte über Brest, Gomel, Moskau, Gorki und Rusajewka nach Workuta. Jede dieser Stationen bedeutete ein paar Tage Gefängnis, dann wurde der Transport neu zusammengestellt. Bereits seit Brest war ich die einzige Deutsche.

Auf dem Hof des Durchgangsgefängnisses "Krassnaja Pressnja" in Moskau wartete ich mit einer Gruppe Frauen wieder mal auf den Weitertransport. Unweit von uns bemerkte ich eine weitere Gruppe Gefangener. Plötzlich löste sich ein junger Mann aus der Gruppe, lief auf mich zu, umarmte und küsste mich und redete auf mich ein. Ehe ich so richtig begriffen hatte, dass es Heini war – wir hatten uns ja nie zuvor gesehen – lief er auch schon wieder weg. Die Wachposten gestikulierten wild und schrien durcheinander, die Situation schien bedrohlich zu werden.

"Wir sehen uns wieder!" rief er mir noch zu. Das geschah erst mal nicht. 42 Jahre später wurde ich auf ein Buch mit dem Titel "Workuta" aufmerksam. Horst Schüler hatte es geschrieben. Er war nach der Wende nach Workuta gereist und hatte in seinem Buch sowohl von der Reise als auch von seiner Zeit im Lager berichtet. Einen Aufstand hatte es damals gegeben, der blutig niedergeschlagen wurde. Heini sei schwer verwundet worden, aber er habe überlebt.

Es gelang mir, Horst Schüler ausfindig zu machen. Er wusste, wo Heini wohnt. Ich habe ihn angerufen; das Erste, was er sagte, war: "Ich suche dich seit 40 Jahren!"

Seitdem ist unsere Verbindung nicht mehr abgerissen. Wir schreiben uns regelmäßig, telefonieren manchmal und sehen uns selten. Aber wenn wir uns mal sehen, ist die Wiedersehensfreude riesengroß.


Ende 1953 warteten wir im Lager Tapiau bei Königsberg auf unsere Entlassung. Deutsche Gefangene aus verschiedenen Lagern der Sowjetunion waren hier zusammengezogen worden. Am 23. Dezember 1953 begann endlich die letzte Etappe einer langen Reise. Wie immer wurden wir in Viehwaggons transportiert, aber diesmal blieben sie unverschlossen. Am Abend des 24. Dezembers – Heiligabend – hielt der Zug auf freier Strecke im verschneiten Litauen. Da sprang Fritz – unser Lagerhornist – aus dem Zug und spielte auf der Trompete "Stille Nacht, Heilige Nacht". Viele von uns folgten ihm nach draußen oder standen in den offenen Waggontüren und sangen inbrünstig mit. Ein vielstimmiger Chor hallte durch die Winternacht. Es war Weihnachten, und wir fuhren in die Heimat, in die Freiheit. Unvergesslich. Nie wieder habe ich Weihnachten so intensiv erlebt.

Später wurde Fritz mein Ehemann. Zu Hanni Wollin, der in Tapiau mit ihm in der Lagerkapelle gespielt hatte, fanden wir nach 44 Jahren wieder Kontakt. Zu Weihnachten schrieb er uns einen Brief und hat die Erinnerung an damals ins Bild (Link zur Dokumentengalerie Nr. 11) gesetzt.


Nachbetrachtung

Gefängnis und Lager, Verhöre, Ängste und Demütigungen, Hunger, Kälte und Dunkelheit, nichts von dem habe ich vergessen, aber ich denke auch nicht mehr so oft daran. Ich kann heute auf diese Zeit ohne Bitterkeit zurückblicken.

Der Verlust der Heimat schmerzt noch immer. Da verliert man nicht nur den Besitz, man verliert vor allem seine Identität.

Privatarchiv Helga Sperlich

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