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Biografisches

Brest, 14. September 1945 – Deportation in die Sowjetunion

Wir rollen wieder. Es geht nach Osten, natürlich. Das heißt aber nicht, dass es wirklich zügig weitergeht. Immer wieder gibt es Halts auf freier Strecke. Wir müssen Platz machen für die wirklich wichtigen Transporte. Die Situation für die Älteren unter uns verschlechtert sich zusehends. Viele sind krank, haben Durchfall. Zum Glück habe ich meinen Holzkohle-Vorrat, den ich mit Fritz teile. Einbildung oder hilft sie tatsächlich? Vorläufig jedenfalls bleiben wir von der gefürchteten Ruhr verschont. Einziger Nachteil sind die schwarzen Zähne. Eines Morgens liegt der erste Tote neben der Waggontür. Wir schrecken hoch als Ernst P. laut verkündet: „Und wieder ist ein Kamerad von uns gegangen. Wir wollen ihm eine Schweigeminute widmen!“ Später wird er dies nicht mehr sagen, denn es würden dann zu viele Schweigeminuten werden. In der letzten Septemberwoche sind es über zehn von uns, die ihr Leben in diesem Waggon beenden. Apathisch legen sie sich in die Nähe der Rinne, durch den Durchfall geschwächt, und warten fatalistisch und ohne zu jammern auf das Ende. Sie sterben, und niemand kann ihnen helfen.

Beim Halt am nächsten Morgen kommt dann die obligatorische Frage der Wache: „SKOLKO?“ Wieviel? Zwischen einem und drei Toten sind es täglich. Die Wasserholer sind es meist, die unsere toten Kameraden heraustragen. Wir wundern uns, wie schnell sie wieder zurück sind. Wie sie uns berichten, werden die Toten einfach irgendwo auf freier Strecke am Bahndamm abgelegt. Für irgendwelche Bestattungszeremonien ist keine Zeit.

Bei einem längeren Halt werden die Türen aufgerissen, und wir hören das Kommando: „Raus mit euch! Alles aussteigen!" Wir sind noch etwa vierzig Leute von anfänglich 60. Mit Fritz und noch 20 anderen werde ich einem großen Waggon zugeteilt. Auch hier gibt es ja Lücken in der Belegung, die wir nun auffüllen.

Das Absuchen unserer Sachen nach Läuse-Nissen ist unsere wichtigste Tagesbeschäftigung geworden. Wir alle haben Angst vor einer Typhusepidemie. Einer der Volksdeutschen erzählt, dass die Russen während der Kriegsjahre den Ausbruch dieser Krankheit verhinderten, indem sie einfach mit Tellerminen den Waggon in die Luft sprengten. Dichtung oder Wahrheit? Aber ich muss sagen, dass es unsere tägliche Sucherei ungemein beflügelte.

Anfang Oktober werden die Nächte merkbar kälter. Wir rücken enger zusammen, liegen auf einer Jacke und decken uns mit der zweiten zu. An der Verpflegung hat sich nichts Wesentliches geändert. Irgendwann gab es mal ein Stück salzigen Fisch. Den aber haben nur einige Leichtsinnige konsumiert. Der Durst war schlimmer als der Hunger.

Eines Nachts wecken uns ungewohnte Fahrgeräusche. Wir fahren über eine hörbar größere Gleisanlage. Moskau! Wir rollen über die Gleisanlagen und halten schließlich abseits. Wir sind hellwach, voller Erwartung! Werden wir endlich versorgt, vielleicht gar ärztlich betreut werden? Stunde um Stunde vergeht in dieser Nacht, nichts geschieht. So, als hätte man uns einfach abgestellt und vergessen. Ein Viehtransport wäre längst versorgt worden. Tiere sind ja eine empfindliche Ware.

Irgendetwas muss aber passieren. Wir spüren es direkt körperlich. Die Stimmung ist explosiv, unser Geduld am Ende. Und dann hören wir es. Ein Aufschrei, der von Waggon zu Waggon überspringt. Lauter und immer lauter schreit und brüllt es aus den anderen Waggons: „WODA, WODA!“ Wasser, Wasser! Wir brüllen mit. Das ist kein Bitten und Betteln mehr. Wir sind verzweifelt. Wir schlagen mit unseren Schuhen an die Wände. Dieser laute Protest hallt über dem Moskauer Verschiebebahnhof in die Moskauer Vorstadt. Genosse Stalin, Vater der Werktätigen, Dir müssen jetzt die Ohren klingeln!

Plötzlich sind Schüsse zu hören. Warnschüsse werden es wohl sein. Unser Protest geht weiter. Und dann erwischt es unseren Waggon. Holz splittert, oben in Fensternähe schreit jemand auf, er ist am Arm getroffen. Notdürftig verbinden seine Kameraden den Arm. Wir haben ja keinerlei sauberes Verbandsmaterial. „Weg von den Fenstern!“ und „Ruhe!“ schreien die Wachen. Ab und an noch ein gefährlich naher Schuss. Dann tritt Stille ein. Totenstille. Wir liegen da und horchen nach draußen. Und warten, warten, warten.

Der Oktober hat uns den Winter gebracht. Unsere Reise führt nach Norden, und es wird zunehmend kälter. Die Bolzen an den Waggonwänden sind morgens weiß gefroren. Einige kratzen diese dünne Eisschicht ab, um sich zu erfrischen. Sie gehören zu den Kandidaten, die als nächste die Plätze neben der Rinne einnehmen. Das Sterben geht weiter. Soll das so lange weiter gehen, bis niemand mehr da ist?

Dann kommt für mich ein Tag, den ich nie in meinem Leben vergessen werde. Fritz Weisbrich gibt auf. Er ist am Ende. Unsere Holzkohle ist aufgebraucht. Hilfe kommt keine. Ein Händedruck als Abschied. Mach’s gut, solange es geht. Fritz kraucht nach vorn, auf die Krankenplätze in Türnähe, wie so viele vor ihm. Am nächsten Morgen ist Fritz tot, gestorben in der Kälte der Nacht des 15. auf den 16. Oktober 1945. Ich gehe zu ihm, hocke mich neben ihn, schließe ihm die Augen. Und ich bete, für ihn, für mich, für uns alle. Mir ist zum Heulen zumute, aber ich kann es einfach nicht mehr.

Ein Rütteln an der Schulter bringt mich in die Realität des Waggon-Alltags zurück. „Mensch, Hadschi, der Fritz war doch dein Kumpel! Tausch mit ihm deine Sachen! Er braucht sie jetzt nicht mehr, aber du hast sie nötiger.“ Meine schäbige, strapazierte Hose, das zerrissene Hemd. In der Jacke fühlen sich bestenfalls noch die Läuse wohl. „Na los, nun mach schon, bevor der Zug hält und die Posten erscheinen.“ Nach einigem Zögern ziehe ich den toten Freund aus, es fällt mir schwer. Stück um Stück tauschen wir Jacke, Hose, Hemd und Unterhemd aus. Während ich dies tue, rede ich mit ihm, bitte ihn um Verzeihung und bete für ihn. Um uns herum ist es still geworden. Fritz Weisbrich aus Berlin, gerade 17 Jahre alt, gestorben auf der Etappe in den Norden, kurz vor Petschora.

Frankfurt/Oder, 27. Dezember 1953 - Rückkehr in die Heimat

Wir verlassen Polen und fahren über die Oder, jetzt Grenzfluss zwischen Polen und Ost-Deutschland. Dann sind wir in Frankfurt/Oder. Nun ist es für uns das Tor zur Freiheit. Von unserer damaligen Frankfurter Etappe kehren zwei Drittel nicht mehr heim. Volkspolizisten mit Hunden bewachen den Bahnsteig, als unser Zug einläuft. Bei den Heimkehrern herrscht Festtagsstimmung. Endlich wieder auf deutschem Boden. Die jungen Vopos uns gegenüber starren uns misstrauisch an. Eine Bläsergruppe spielt irgendwo Weihnachtslieder. Der Bahnsteig ist abgesperrt. Von der Zivilbevölkerung ist niemand zu sehen. Auf dem Gleis nebenan läuft ein Personenzug ein. Wer in West-Deutschland zuhause ist, der möge bitteschön einsteigen, verkündet eine Durchsage. Wir sind immer noch misstrauisch. Es sind nicht sehr viele, die mit diesem Zug weiterfahren. Dann fährt auch unser Zug weiter nach Fürstenwalde. Am Bahnhof erwarten uns bereits Autobusse, die uns zu einem Barackenlager transportieren. Dort ist man auf unsere Ankunft vorbereitet. Alles geht recht zivil zu, bewaffnete Vopos sind hier nicht mehr zu sehen. In einem Saal bekommen wir eine Mahlzeit, die erste in Deutschland. Irgendein Funktionär hält eine Begrüßungsrede. Uns interessiert sein Gelaber weniger. Wir wollen nur wissen, wie es mit uns weiter geht. Die Zieladressen, die wir wenige West-Berliner angeben, werden kommentarlos notiert. Am Abend dieses 27. Dezember 1953 werden wir neu eingekleidet. Wir tauschen die Lagerkleidung gegen zivile Kleidung aus DDR-Produktion. In dieser Nacht denkt niemand an Schlaf, so unmittelbar vor der Entlassung in die Freiheit. Am nächsten Morgen, am 28. Dezember halte ich ein unscheinbares, aber unendlich wichtiges Stück Papier in Postkartengröße in meiner Hand. Dieser Entlassungsschein mit meinen persönlichen Daten bestätigt, dass ich vom 27. bis zum 28. Dezember 1953 im Lager Fürstenwalde war. Von einer Haftzeit in der Sowjetunion ist nichts vermerkt. Immerhin werde ich nach Berlin SW29, also nach West-Berlin entlassen. Stempel drauf und Unterschrift des Lagerleiters. Das war es auch schon.

Eine kleine Völkerwanderung verlässt das Entlassungslager in Richtung Bahnhof. Mit einem der ersten Personenzüge fahre ich mit einigen anderen bis zum S-Bahnhof Erkner. Andere Mitreisende betrachten uns erstaunt. Auch wenn wir glauben, jetzt zivil gekleidet zu sein, wir fallen auf. Wir tragen alle die absolut gleichen neuen Mäntel, einige von uns haben noch ihre russischen Schapka (Kopfbedeckung). Wir sind schon eine eigenartige Reisegesellschaft. Von Erkner geht es mit der S-Bahn weiter zum S-Bahnhof Ostkreuz. Am Bahnhof Sonnenallee steigen Karl B., Heinrich H., Achim D. und ich aus. Wir machen uns gemeinsam auf den Weg zu unseren Familien, von denen wir über acht Jahre nichts gehört haben.

Auf der Straße herrscht reger Verkehr. Wir bestaunen die verschiedenen PKW-Typen und besonders die neuen Motorroller. Eine neue Welt. Unser Weg führt uns längs der Sonnenallee in Richtung Hermannplatz. Am Hertzbergplatz sagt Karl plötzlich: „Wartet mal, dieses Haus hier gehörte mal meinen Eltern.“ Die Haustür ist offen und im Hausflur finden wir den „stillen Portier“. Neben den Namen der Mieter steht ganz unten der Name des Hauseigentümers, Karls Vater. In der Bäckerei nebenan erfahren wir, dass die Eltern immer noch am Hermannplatz zu Hause sind. Wir gehen weiter ohne zu ahnen, dass die gute Bäckersfrau telefonisch die Eltern auf die Rückkehr des verlorenen Sohnes vorbereitet. Es ist nicht mehr weit. Heinrich soll als Botschafter Karls Eltern auf die Ankunft ihres Sohnes vorbereiten. So war es gedacht, doch die Familie ist bereits informiert und erwartet uns bereits ungeduldig. Der Erste von unserem Vierergespann ist glücklich heimgekehrt. Als nächster sind wir Zeuge von Heinrichs Heimkehr bei seiner Mutter und Schwester in der Weisestraße.

Achim und ich gehen zurück Richtung Hermannplatz, über die Hasenheide in die Graefestraße. Dann stehen wir vor dem großen Eckhaus Urban- Ecke Graefestraße. Achim geht vor. Ich warte einen Treppenabsatz tiefer, während er im 4. Stock klingelt. Die Tür öffnet sich und ich höre die Stimme meiner Mutter. Langsam steige ich die letzten Stufen nach oben. Ja, und dann stehe ich vor ihr. Nach genau acht Jahren und sieben Monaten darf ich meine Mutter wieder in die Arme schließen. Ich bin endlich zu Hause. Was man in diesen Augenblicken der Heimkehr fühlt? Ich kann es nicht beschreiben.

Mein Vater ist noch zur Arbeit und nach den ersten Gesprächen mit meiner Mutter, ist es für mich an der Zeit, Achim zu seinen Eltern in die Forsterstraße zu begleiten. Auch für ihn gibt es ein glückliches Wiedersehen mit den Eltern.

Mit Achim habe ich die schwere Zeit im Verhörkeller und vor dem Militärtribunal durchgestanden, das Gefängnis und den Transport in den Norden überlebt. Der 28. Dezember ist für uns ein Glückstag. Ich verabschiede mich und mache mich auf den Weg nach Hause.

Quelle: Gerloff, Horst: Chronik einer verlorenen Jugend, 1945-1954, Selbstverlag, Berlin 2009, S. 44-46, 144-147.

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