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Biografisches

Erinnerungen: Nichts Alltägliches

Ribnitz/Damgarten. 11. Oktober 1951. 10 Uhr vormittags. Verhaftung durch zwei Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes der DDR. Arrest im Rostocker Gefängnis. Bahnfahrt, im Extraabteil, über Wittenberge nach Merseburg. Handschellen. Dort Übergabe an die "Freunde" des KGB. Einschließung im dreckstarrenden Kellergeschoss. Tropfsteinhöhle. Erste Verhöre. Überstellung an das Zuchthaus Halle (Roter Ochse). Tagelanger Aufenthalt in Kellerzelle. Umzug in das Hauptgebäude. Zwei-Mann-Zelle. Haare scheren. Foto anfertigen.

Zelle: Pritschen. Dreckige Wolldecken. Wackliger Tisch. Verbeulte Wasserkanne und Waschschüssel. Stinkender Notdurftkübel in Zellenecke. Ekel. Widerwillen. Kein Handtuch. Kein Toilettenpapier. Toilettenpapier? Was ist das? Fenster verblendet. Diffuses Licht.

Verpflegung: Frühstück: Kaffee?? Braunes Wasser. Trockenes Brot. Mittagessen: Wassersuppe. Überwiegend Sago. Abendessen: Kaffee?? Brot.

Wecken 6 Uhr. Schlafen 22 Uhr. Auf der Pritsche liegen bzw. in der Zelle gehen, tagsüber verboten. Karzer bei Nichtbefolgung. Gebot: Sitzen auf der Pritsche. Beide Hände auf den Knien. Augenschließen und Anlehnen strengstens untersagt. Nächtlicher Terror. Russische Flüche. Obszönitäten. Sprachverfall. Sprache der Diktatur. Nicht wiederzugeben. Gefangenenschreie. Dröhnende Zellentüren. Schlüsselgeklirr. Klappernde Holzpantoffeln. Zum Tode Verurteilte erhalten Holzpantoffeln. Gestreifte Bekleidung. Kuche – mein Zellengenosse – alt, ängstlich, verstört – was hat ihn in die Fänge des KGB gebracht – flüstert: "Was ist da los?" Ich sage ohne Überlegung: "Raustreten zum Särgeempfang!" Erschrecken. Entsetzen. Zynismus? Galgenhumor?

Sporadischer Hofgang. Verhör nur in der Nacht. Stundenlang. Untersuchungsrichter. Sowjetischer Offizier des KGB. Drohungen. Beleidigungen. Beschimpfungen. Dunkelzelle. Schmeicheleien: "Sie sind doch noch so jung, sagen Sie uns alles, dann können Sie sofort nach Hause gehen." Wölfe im Schafspelz. Erpressen idiotischer Geständnisse. Unterzeichnung des unverständlichen russischen Textes.

Drei Monate. Nervenzerstörende Verhöre. Urteilsverkündung am 29.12.1951. Sowjetisches Militärtribunal. Kurz. Präzise. Kalt. Sachbezogen. Orden. Epauletten. Offiziere. Ich ignoriere sie. Schaue durch sie hindurch. Wir sind zu dritt. Herbert Schönmuth. Günter Bach. Ich.

Anklagebegründung: Militärspionage für den französischen Geheimdienst. Gruppenbildung.

Urteilsspruch: Tod durch Erschießen für Herbert Schönmuth. Vollstreckt am 20.3.1952. Bekanntgeworden durch die Rehabilitierungsschrift von 1995. Seine Eltern erfuhren nie von seinem Schicksal. Herbert Schönmuth erbleicht. Günter Bach und ich 25 Jahre Lagerhaft. Ich werde zu Eis. 25 Jahre? Horrorvision. Wie fühlt sich Günter Bach? Die Dolmetscherin. "Jetzt können Sie miteinander sprechen!" Worüber??

Herbert Schönmuths Weg in die Todeszelle. Nie vergesse ich seinen Blick.

Horst Maltzahn, unveröffentlichter Erinnerungsbericht, 1997

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