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Biografisches

"Ein Zettel und eine Uhr aus gelbem Metall

Nach der Entführung aus West-Berlin am 26. Mai 1947 und die darauf erfolgte Übergabe an und Verhaftung durch die sowjetischen Sicherheitsbehörden in Kyritz wurden alle mitgeführten Gegenstände beschlagnahmt. Dabei handelte es sich um eine Geldbörse, ein Taschenmesser, einen Gürtel, einen Personalausweis, Fotos, ein Schulzeugnis und eine goldene Taschenuhr mit Schlüssel, die ich meinem Vater nach dem Einmarsch der russischen Truppen entwendet hatte.

Ein Wachmann gab mir einen alten Militärmantel, und nach drei Tagen in einem dunklen Kellerloch hieß es: Transport in eine NKWD-Dienststelle in der Luckenberger Straße in der Stadt Brandenburg. Die nächsten fünf Monate waren ausgefüllt mit nächtlichen Verhören. Die Vorwürfe waren: Werwolf, Spionage, Sabotage u.a. Dass meine Weigerung, für den sowjetischen Geheimdienst zu arbeiten, strafrechtlich relevant sein könnte, war mir nicht bewusst gewesen. Die Hoffnung, als kleiner unbedeutender Schuljunge wieder entlassen zu werden, war jedoch trügerisch und zerschlug sich, als mir die Haare kahl geschoren wurden. Nach sieben Monaten in dem feuchten Keller mit einer vier Meter langen Holzpritsche, zeitweise mit Mitgefangenen, und einer Milchkanne, wie sie bei Landwirten üblich ist, als Toilette, wurde mir am 15. Dezember 1947 gesagt, dass ich in Moskau zu einer Strafe von 10 Jahren verurteilt worden sei. Ein Papier mit dem Urteilsspruch ist nie ausgehändigt worden.

Am selben Tag erhielt der etwa gleichaltrige Günter Kramer den Bescheid auch über 10 Jahre Strafe. Wir verabredeten, wenn wir irgendwann zurückkehren sollten, uns am
15. Dezember in der Gaststätte des U-Bahnhofs Ruhleben zu treffen. In verschiedenen Lagern in Russland hatten wir uns noch getroffen. Später erfuhr ich von einem Mithäftling, einem Schweden, dass Kramer im TBC-Krankenlager in Abes/Komi ASSR gestorben sei. Von Brandenburg kamen wir beide in die Festung Torgau, dort waren wir zusammen mit Lothar Scholz. Unsere Zelle war ein Abstellraum. Aus einer Schwachstromsteckdose rissen wir Kabelstücke heraus und fertigten davon mit Hilfe eines Nagels aus unseren Schuhen Nadeln, mit denen wir unsere seit der Verhaftung ungewaschen getragene Kleidung ausgebessert haben.

Anfang Februar 1948 wurden wir, etwa 30 Deutsche, in einem Güterwagen, einem großen Zug mit ehemals russischen Kriegsgefangenen, zugeladen. Der Zug wurde oben mit Maschinengewehren bewacht und an den Haltestellen von unten. Die Sicherung fand statt, nicht nur um Fluchtversuche zu vereiteln, sondern auch aus Angst vor polnischen Überfällen.

In der Grenzstadt Brest-Litowsk, bei einer Großkontrolle mit Identitätsprüfung, Fingerabdruck und Frage nach dem Eigentumsrecht an der Taschenuhr wurde mir eine Quittung gegeben, die besagte, dass ich nach Verbüßung der Strafe die Uhr 'aus gelbem Metall' zurückbekommen würde. Da aber keiner von uns außer leeren Taschen die Möglichkeit zur Aufbewahrung für einen langen Zeitraum von zehn Jahren besaß, war auch die Existenz dieses einfachen Zettels nur von kurzer Dauer. Sei es, dass jemand für erbettelten Tabak Papier für eine Zigarette erbat oder aus anderen Gründen.

Acht Jahre später, nach Aufenthalten in kaum zählbaren Lagern im äußersten Norden Russlands, kein Brief, kein Radio, keine Zeitung, jenseits des Polarkreises um Workuta und Petschora kam ich mit dem polnischen Juden Leo Levitan in das Durchgangslager Solikamsk, und später nach Potma. Da wir, wieder einmal, freigelassen werden sollten, forderte Levitan seinen, ihm bei der Inhaftierung abgenommenen, umfangreichen Schmuck und erhielt ihn. Daraufhin erinnerte ich mich meiner Uhr und forderte ebenfalls die Rückgabe. Doch es gab Schwierigkeiten. Verlangt wurde der nicht mehr vorhandene Zettel. Nach einigem Hin und Her bekam ich die Uhr 'aus gelbem Metall'. Äußerlich waren keine Schäden erkennbar und der für das Uhrwerk erforderliche Schlüssel war mit einem Bindfaden am Öhr der Uhr befestigt. Voller Ungeduld entknotete ich die Schnur und versuchte das Wunderwerk aus seinem jahrelangen Schlaf zu erwecken. Alle Aufregung war entbehrlich. Die Uhr begann zu ticken und so tickt sie auch heute noch, wenn sie aufgezogen ist."

Privatarchiv Eberhard Polthier

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